sey: ich war der einzige Kopfhänger im Hauß; denn durch das Brautgeschäft war alles physiognomische Studium daraus ver- drungen. Lottchen nahm bey dem neuen Dozenten so viel Sentimentalstunden, daß sie die physiognomische Privat darüber ver- gaß, und für mich allein zu physiognomisiren, fand ich an iedem Orte so gute Gelegenheit wie in Geroldsheim. Eigentlich aber hatte mir Balthasar Koch den Kohl versalzen, dessen ultimatum zu eben der Zeit einging. Wenn mich nicht der dünne magre Brief auf den Jnnhalt hätte schließen lassen, so würde die bloße Handschrift der Addresse, welche wie bekannt, einem Kunstverständi- gen, der nur halbwege Beobachter ist, die Contenta leicht errathen läßt, mich schon belehrt haben, daß nicht viel tröstliches draus zu nehmen sey. Die anverlangte runde Summe Geld, schrieb mir mein Haus- verwalter, hab er mit Müh und Noth auf-
gebracht;
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ſey: ich war der einzige Kopfhaͤnger im Hauß; denn durch das Brautgeſchaͤft war alles phyſiognomiſche Studium daraus ver- drungen. Lottchen nahm bey dem neuen Dozenten ſo viel Sentimentalſtunden, daß ſie die phyſiognomiſche Privat daruͤber ver- gaß, und fuͤr mich allein zu phyſiognomiſiren, fand ich an iedem Orte ſo gute Gelegenheit wie in Geroldsheim. Eigentlich aber hatte mir Balthaſar Koch den Kohl verſalzen, deſſen ultimatum zu eben der Zeit einging. Wenn mich nicht der duͤnne magre Brief auf den Jnnhalt haͤtte ſchließen laſſen, ſo wuͤrde die bloße Handſchrift der Addreſſe, welche wie bekannt, einem Kunſtverſtaͤndi- gen, der nur halbwege Beobachter iſt, die Contenta leicht errathen laͤßt, mich ſchon belehrt haben, daß nicht viel troͤſtliches draus zu nehmen ſey. Die anverlangte runde Summe Geld, ſchrieb mir mein Haus- verwalter, hab er mit Muͤh und Noth auf-
gebracht;
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ſey: ich war der einzige Kopfhaͤnger im
Hauß; denn durch das Brautgeſchaͤft war
alles phyſiognomiſche Studium daraus ver-
drungen. Lottchen nahm bey dem neuen
Dozenten ſo viel Sentimentalſtunden, daß
ſie die phyſiognomiſche Privat daruͤber ver-
gaß, und fuͤr mich allein zu phyſiognomiſiren,
fand ich an iedem Orte ſo gute Gelegenheit
wie in Geroldsheim. Eigentlich aber hatte
mir Balthaſar Koch den Kohl verſalzen,
deſſen ultimatum zu eben der Zeit einging.
Wenn mich nicht der duͤnne magre Brief
auf den Jnnhalt haͤtte ſchließen laſſen, ſo
wuͤrde die bloße Handſchrift der Addreſſe,
welche wie bekannt, einem Kunſtverſtaͤndi-
gen, der nur halbwege Beobachter iſt, die
Contenta leicht errathen laͤßt, mich ſchon
belehrt haben, daß nicht viel troͤſtliches
draus zu nehmen ſey. Die anverlangte
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/241>, abgerufen am 22.12.2024.
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