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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779.

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Auf die Art hätte der ehrliche Gellert doch
recht wenn er spricht:

So fühlt oft selbst ein Schelm den Werth
der Redlichkeit.

Der Mann wurde mir iede Stunde durch
mancherley kleine Züge von Menschenliebe,
Dienstbeflissenheit und Rechtschaffenheit in-
teressanter. Begegneten uns eines Mor-
gens drey Bäuerinnen, die in kothigem
grundlosen Wege schweere Bürden Holz zu
Markte trugen, war dabey eine iunge
Dirn', die unter der Last schier erlag und
laut jammerte. Mein empfindsamer Reise-
gefehrte ließ sich das zu Herzen gehen, be-
zahlte den Weibern den Werth ihrer Lasten
reichlich, und verehrt' das Holz einem ar-
men Bauersmann, der mit einem ledigen
Karren eben vorüber fuhr. Jch freute mich
der guten That und schämte mich; mein
Herz sagte mir, daß ich wohl eben das
würde gethan haben, wenn ich dran ge-

dacht

Auf die Art haͤtte der ehrliche Gellert doch
recht wenn er ſpricht:

So fuͤhlt oft ſelbſt ein Schelm den Werth
der Redlichkeit.

Der Mann wurde mir iede Stunde durch
mancherley kleine Zuͤge von Menſchenliebe,
Dienſtbefliſſenheit und Rechtſchaffenheit in-
tereſſanter. Begegneten uns eines Mor-
gens drey Baͤuerinnen, die in kothigem
grundloſen Wege ſchweere Buͤrden Holz zu
Markte trugen, war dabey eine iunge
Dirn’, die unter der Laſt ſchier erlag und
laut jammerte. Mein empfindſamer Reiſe-
gefehrte ließ ſich das zu Herzen gehen, be-
zahlte den Weibern den Werth ihrer Laſten
reichlich, und verehrt’ das Holz einem ar-
men Bauersmann, der mit einem ledigen
Karren eben voruͤber fuhr. Jch freute mich
der guten That und ſchaͤmte mich; mein
Herz ſagte mir, daß ich wohl eben das
wuͤrde gethan haben, wenn ich dran ge-

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[260/0268] Auf die Art haͤtte der ehrliche Gellert doch recht wenn er ſpricht: So fuͤhlt oft ſelbſt ein Schelm den Werth der Redlichkeit. Der Mann wurde mir iede Stunde durch mancherley kleine Zuͤge von Menſchenliebe, Dienſtbefliſſenheit und Rechtſchaffenheit in- tereſſanter. Begegneten uns eines Mor- gens drey Baͤuerinnen, die in kothigem grundloſen Wege ſchweere Buͤrden Holz zu Markte trugen, war dabey eine iunge Dirn’, die unter der Laſt ſchier erlag und laut jammerte. Mein empfindſamer Reiſe- gefehrte ließ ſich das zu Herzen gehen, be- zahlte den Weibern den Werth ihrer Laſten reichlich, und verehrt’ das Holz einem ar- men Bauersmann, der mit einem ledigen Karren eben voruͤber fuhr. Jch freute mich der guten That und ſchaͤmte mich; mein Herz ſagte mir, daß ich wohl eben das wuͤrde gethan haben, wenn ich dran ge- dacht

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/268>, abgerufen am 22.12.2024.