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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779.

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Wie wir aber in der Herberge am dritten
Tage unsrer Bekanntschaft, zum Valet eine
Flasche alten Wein zusammen tranken, und
der Mann mir gerad gegen über saß, faßt
ich ihn scharf in die Augen, befand, daß
sein Gesicht genau die Form hatte, die der
kunsterfahrne Berliner Bildner dem braven
Manne in Bürgers Gedichten attribuirt hat.
Wer sieht nicht, sprach ich zu mir, in dem
freien offnen festen Auge den selbstehenden
Mann? Welche Güte, Keckheit, Brav-
heit, ohne Feinheit im Munde! Und das
Ohr mit dem eckigten Ausschnitt, zeigt doch
wahrlich, hier den starken, entschlossenen,
muthigen, athletischen Mann, der seine
Schulter, um im Nothfall seinem Näch-
sten damit zu dienen, gern und willig unter
einen Hebebaum stemmt. Das Ganze ist
reiner, unverkennbarer Ausdruck von Ehr-
lichkeit, Rechtschaffenheit und Biedertreue.
Durch diesen herrlichen Anblick fühlt ich

mich
R 4

Wie wir aber in der Herberge am dritten
Tage unſrer Bekanntſchaft, zum Valet eine
Flaſche alten Wein zuſammen tranken, und
der Mann mir gerad gegen uͤber ſaß, faßt
ich ihn ſcharf in die Augen, befand, daß
ſein Geſicht genau die Form hatte, die der
kunſterfahrne Berliner Bildner dem braven
Manne in Buͤrgers Gedichten attribuirt hat.
Wer ſieht nicht, ſprach ich zu mir, in dem
freien offnen feſten Auge den ſelbſtehenden
Mann? Welche Guͤte, Keckheit, Brav-
heit, ohne Feinheit im Munde! Und das
Ohr mit dem eckigten Ausſchnitt, zeigt doch
wahrlich, hier den ſtarken, entſchloſſenen,
muthigen, athletiſchen Mann, der ſeine
Schulter, um im Nothfall ſeinem Naͤch-
ſten damit zu dienen, gern und willig unter
einen Hebebaum ſtemmt. Das Ganze iſt
reiner, unverkennbarer Ausdruck von Ehr-
lichkeit, Rechtſchaffenheit und Biedertreue.
Durch dieſen herrlichen Anblick fuͤhlt ich

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[263/0271] Wie wir aber in der Herberge am dritten Tage unſrer Bekanntſchaft, zum Valet eine Flaſche alten Wein zuſammen tranken, und der Mann mir gerad gegen uͤber ſaß, faßt ich ihn ſcharf in die Augen, befand, daß ſein Geſicht genau die Form hatte, die der kunſterfahrne Berliner Bildner dem braven Manne in Buͤrgers Gedichten attribuirt hat. Wer ſieht nicht, ſprach ich zu mir, in dem freien offnen feſten Auge den ſelbſtehenden Mann? Welche Guͤte, Keckheit, Brav- heit, ohne Feinheit im Munde! Und das Ohr mit dem eckigten Ausſchnitt, zeigt doch wahrlich, hier den ſtarken, entſchloſſenen, muthigen, athletiſchen Mann, der ſeine Schulter, um im Nothfall ſeinem Naͤch- ſten damit zu dienen, gern und willig unter einen Hebebaum ſtemmt. Das Ganze iſt reiner, unverkennbarer Ausdruck von Ehr- lichkeit, Rechtſchaffenheit und Biedertreue. Durch dieſen herrlichen Anblick fuͤhlt ich mich R 4

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/271>, abgerufen am 22.12.2024.