Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Visitirer brüst auf die Tatze, sprach: weg
damit! Thu er was seines Amtes ist, saß
ab, öfnete seinen Mantelsack, und zeigt ihm
alles Stück vor Stück, schärft ihm dabey
das Gewissen übers sas und nefas nach-
drücklich. Der Defraudationsmäckler zog
die Achseln, sprach: er habe kein Faß, son-
dern nur ein Fäßlein, das noch dazu immer
ledig sey, wo er mit sieben Kindern hin-
solle, wenn die iungen Raben nach Brodt
schrieen? Das ist was anders, sprach
mein Gesellschafter, zog seinen Beutel und
verehrt ihm einen blanken Gulden. Jch
folgte diesem rühmlichen Beyspiel, beschämt
ein so armseliger Nachtreter zu seyn.

Bißher hatt' ichs noch nicht gewagt den
Mann physiognomisch zu beurtheilen. Weil
die Kunst ihr Spiel und ihren Spott so oft
mit mir getrieben hatte, that ich aufs Se-
hen und Fühleu des Genies, und auf alle
windschiefen Ahndungen desselben Verzicht.

Wie

Viſitirer bruͤſt auf die Tatze, ſprach: weg
damit! Thu er was ſeines Amtes iſt, ſaß
ab, oͤfnete ſeinen Mantelſack, und zeigt ihm
alles Stuͤck vor Stuͤck, ſchaͤrft ihm dabey
das Gewiſſen uͤbers ſas und nefas nach-
druͤcklich. Der Defraudationsmaͤckler zog
die Achſeln, ſprach: er habe kein Faß, ſon-
dern nur ein Faͤßlein, das noch dazu immer
ledig ſey, wo er mit ſieben Kindern hin-
ſolle, wenn die iungen Raben nach Brodt
ſchrieen? Das iſt was anders, ſprach
mein Geſellſchafter, zog ſeinen Beutel und
verehrt ihm einen blanken Gulden. Jch
folgte dieſem ruͤhmlichen Beyſpiel, beſchaͤmt
ein ſo armſeliger Nachtreter zu ſeyn.

Bißher hatt’ ichs noch nicht gewagt den
Mann phyſiognomiſch zu beurtheilen. Weil
die Kunſt ihr Spiel und ihren Spott ſo oft
mit mir getrieben hatte, that ich aufs Se-
hen und Fuͤhleu des Genies, und auf alle
windſchiefen Ahndungen deſſelben Verzicht.

Wie
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0270" n="262"/>
Vi&#x017F;itirer bru&#x0364;&#x017F;t auf die Tatze, &#x017F;prach: weg<lb/>
damit! Thu er was &#x017F;eines Amtes i&#x017F;t, &#x017F;<lb/>
ab, o&#x0364;fnete &#x017F;einen Mantel&#x017F;ack, und zeigt ihm<lb/>
alles Stu&#x0364;ck vor Stu&#x0364;ck, &#x017F;cha&#x0364;rft ihm dabey<lb/>
das Gewi&#x017F;&#x017F;en u&#x0364;bers <hi rendition="#aq">&#x017F;as</hi> und <hi rendition="#aq">nefas</hi> nach-<lb/>
dru&#x0364;cklich. Der Defraudationsma&#x0364;ckler zog<lb/>
die Ach&#x017F;eln, &#x017F;prach: er habe kein Faß, &#x017F;on-<lb/>
dern nur ein Fa&#x0364;ßlein, das noch dazu immer<lb/>
ledig &#x017F;ey, wo er mit &#x017F;ieben Kindern hin-<lb/>
&#x017F;olle, wenn die iungen Raben nach Brodt<lb/>
&#x017F;chrieen? Das i&#x017F;t was anders, &#x017F;prach<lb/>
mein Ge&#x017F;ell&#x017F;chafter, zog &#x017F;einen Beutel und<lb/>
verehrt ihm einen blanken Gulden. Jch<lb/>
folgte die&#x017F;em ru&#x0364;hmlichen Bey&#x017F;piel, be&#x017F;cha&#x0364;mt<lb/>
ein &#x017F;o arm&#x017F;eliger Nachtreter zu &#x017F;eyn.</p><lb/>
        <p>Bißher hatt&#x2019; ichs noch nicht gewagt den<lb/>
Mann phy&#x017F;iognomi&#x017F;ch zu beurtheilen. Weil<lb/>
die Kun&#x017F;t ihr Spiel und ihren Spott &#x017F;o oft<lb/>
mit mir getrieben hatte, that ich aufs Se-<lb/>
hen und Fu&#x0364;hleu des Genies, und auf alle<lb/>
wind&#x017F;chiefen Ahndungen de&#x017F;&#x017F;elben Verzicht.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Wie</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[262/0270] Viſitirer bruͤſt auf die Tatze, ſprach: weg damit! Thu er was ſeines Amtes iſt, ſaß ab, oͤfnete ſeinen Mantelſack, und zeigt ihm alles Stuͤck vor Stuͤck, ſchaͤrft ihm dabey das Gewiſſen uͤbers ſas und nefas nach- druͤcklich. Der Defraudationsmaͤckler zog die Achſeln, ſprach: er habe kein Faß, ſon- dern nur ein Faͤßlein, das noch dazu immer ledig ſey, wo er mit ſieben Kindern hin- ſolle, wenn die iungen Raben nach Brodt ſchrieen? Das iſt was anders, ſprach mein Geſellſchafter, zog ſeinen Beutel und verehrt ihm einen blanken Gulden. Jch folgte dieſem ruͤhmlichen Beyſpiel, beſchaͤmt ein ſo armſeliger Nachtreter zu ſeyn. Bißher hatt’ ichs noch nicht gewagt den Mann phyſiognomiſch zu beurtheilen. Weil die Kunſt ihr Spiel und ihren Spott ſo oft mit mir getrieben hatte, that ich aufs Se- hen und Fuͤhleu des Genies, und auf alle windſchiefen Ahndungen deſſelben Verzicht. Wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/270
Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/270>, abgerufen am 22.12.2024.