Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851.Zum Sylvester war sie immer am liebsten zu Zum Sylveſter war ſie immer am liebſten zu <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0042" n="36"/> <p>Zum Sylveſter war ſie immer am liebſten zu<lb/> Tante Rieke gegangen. Da gab es Punſch und Kuchen,<lb/> und außerdem, daß man wohl ernſthaft ſprach und<lb/> ſang, ging es doch auch ſehr vergnüglich her, und für<lb/> die jungen Leute gab es mancherlei Spaß, denn die<lb/> Tante war trotz aller Pietiſterei doch ſehr heiter, konnte<lb/> ſelbſt recht drollig ſein und hinderte die jungen Leute<lb/> nicht, es ebenſo zu machen. Heute war ihr das freilich<lb/> ganz egal, und als ihre Freundinnen ihre Schweig¬<lb/> ſamkeit bemerkten, that ſie etwas erſchrocken, ſchmun¬<lb/> zelte aber doch dabei, daß alle behaupteten: dahinter<lb/> müſſe etwas ſtecken. Fritz Buchſtein, der auch unter<lb/> den Gäſten war, ſah ſie ſcharf an bei dieſen Scherzen,<lb/> und der Blick war ihr wieder ſehr fatal. Doch ward<lb/> man lebhafter bei einem Gläschen Punſch und be¬<lb/> merkte Klärchens Schweigſamkeit nicht mehr. Selbſt<lb/> Fritz ward ungewöhnlich redſelig und erzählte ſehr un¬<lb/> terhaltend von ſeiner Wanderſchaft. Gretchen hing<lb/> an jedem Worte, das er ſagte: ſelbſt Klärchen mußte<lb/> geſtehen, daß er ein ausgezeichneter Tiſchlergeſelle<lb/> ſei: die Worte gingen ihm gewandt von den Lip¬<lb/> pen, ſeine Augen waren lebendig, ſeine Wangen ge¬<lb/> röthet, ſie wußte ſelbſt nicht wie, aber es fielen ihr<lb/> die Helden aus den Ritterromanen ein, wie ſie be¬<lb/> ſchrieben werden, ſo ſanft und mild und dabei ſo edel<lb/> und männlich. Sie begann faſt, ihn dem Gretchen nicht<lb/> zu gönnen, obgleich ſie ſelbſt himmelhoch über ihm<lb/> ſtand; denn es war doch nur ein ungebildeter Mann,<lb/> und ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben, wie<lb/> ſie ihn auf dem Herzen trug. Darin hatte ſie Recht,<lb/> ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben: er war<lb/></p> </body> </text> </TEI> [36/0042]
Zum Sylveſter war ſie immer am liebſten zu
Tante Rieke gegangen. Da gab es Punſch und Kuchen,
und außerdem, daß man wohl ernſthaft ſprach und
ſang, ging es doch auch ſehr vergnüglich her, und für
die jungen Leute gab es mancherlei Spaß, denn die
Tante war trotz aller Pietiſterei doch ſehr heiter, konnte
ſelbſt recht drollig ſein und hinderte die jungen Leute
nicht, es ebenſo zu machen. Heute war ihr das freilich
ganz egal, und als ihre Freundinnen ihre Schweig¬
ſamkeit bemerkten, that ſie etwas erſchrocken, ſchmun¬
zelte aber doch dabei, daß alle behaupteten: dahinter
müſſe etwas ſtecken. Fritz Buchſtein, der auch unter
den Gäſten war, ſah ſie ſcharf an bei dieſen Scherzen,
und der Blick war ihr wieder ſehr fatal. Doch ward
man lebhafter bei einem Gläschen Punſch und be¬
merkte Klärchens Schweigſamkeit nicht mehr. Selbſt
Fritz ward ungewöhnlich redſelig und erzählte ſehr un¬
terhaltend von ſeiner Wanderſchaft. Gretchen hing
an jedem Worte, das er ſagte: ſelbſt Klärchen mußte
geſtehen, daß er ein ausgezeichneter Tiſchlergeſelle
ſei: die Worte gingen ihm gewandt von den Lip¬
pen, ſeine Augen waren lebendig, ſeine Wangen ge¬
röthet, ſie wußte ſelbſt nicht wie, aber es fielen ihr
die Helden aus den Ritterromanen ein, wie ſie be¬
ſchrieben werden, ſo ſanft und mild und dabei ſo edel
und männlich. Sie begann faſt, ihn dem Gretchen nicht
zu gönnen, obgleich ſie ſelbſt himmelhoch über ihm
ſtand; denn es war doch nur ein ungebildeter Mann,
und ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben, wie
ſie ihn auf dem Herzen trug. Darin hatte ſie Recht,
ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben: er war
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