beruht; dass in der konkreten Vorstellung des seelischen Lebens die Voraussetzung ursprünglich getrennter Thätigkeiten oder Funktionen gar nicht statthaft ist. Schon Platos tiefgründige Untersuchungen über das Verhältnis der vielen Tugenden zu der einen, in sich unteilbaren Tugend führen über die psycho- logische Vorstellung von drei gleich selbständigen Personen gegen einander agierenden "Seelenteilen" eigentlich weit hinaus, zu der einer untrennbaren Einheit bloss begrifflich auseinander- zuhaltender Seiten oder Richtungen der menschlichen Aktivität, deren normales, zuletzt nach dem Grundgesetz der Idee, dem Gesetz der Gesetzlichkeit selbst zu bestimmendes Verhältnis die seelische Tüchtigkeit oder Tugend ausmacht. Heute vollends ist es wohl nachgerade allgemein anerkannt, dass es in der Psychologie auf die Einsicht in die ursprüngliche Verbindung oder vielmehr unteilbare Einheit (Individuität) der nur ab- straktiv zu unterscheidenden Faktoren des Psychischen an- kommt; dass im seelischen Leben die Komplexion ursprüng- lich, die Zerlegung in Einzelakte zum Verständnis der Kom- plexion zwar unerlässlich ist, aber ein höheres Recht als das einer vorläufigen Abstraktion niemals beanspruchen darf. Die Grundlage dieser notwendigen Abstraktionen bieten die mannig- fachen Objektivierungen des seelischen Inhalts. Denn alle Objektivierung beruht auf Abstraktionen; handelt es sich hingegen darum, den seelischen Inhalt möglichst in seiner subjektiven Unmittelbarkeit -- und das eben heisst psycho- logisch -- zu erfassen, so muss die Scheidung in Gedanken wieder aufgehoben, die Verbindung allseitig wiederhergestellt werden.
Hiernach hat man auch nicht mehr zu besorgen, dass, wenn von einem Willen und einer Vernunft der Gemeinschaft die Rede ist, diese zu einem mystischen Wesen ausser den Individuen gemacht werde. Es ist allein die Frage: was er- giebt sich daraus, wenn Trieb, Wille und Vernunft der Ein- zelnen in der Gemeinschaft in Berührung treten und ihre Wirkung gleichsam summieren. Daraus folgt eine gewisse Norm, gemäss welcher sich diese drei Faktoren in der Ge- meinschaft, ebenso wie im Einzelnen, in Gleichgewicht setzen
beruht; dass in der konkreten Vorstellung des seelischen Lebens die Voraussetzung ursprünglich getrennter Thätigkeiten oder Funktionen gar nicht statthaft ist. Schon Platos tiefgründige Untersuchungen über das Verhältnis der vielen Tugenden zu der einen, in sich unteilbaren Tugend führen über die psycho- logische Vorstellung von drei gleich selbständigen Personen gegen einander agierenden „Seelenteilen“ eigentlich weit hinaus, zu der einer untrennbaren Einheit bloss begrifflich auseinander- zuhaltender Seiten oder Richtungen der menschlichen Aktivität, deren normales, zuletzt nach dem Grundgesetz der Idee, dem Gesetz der Gesetzlichkeit selbst zu bestimmendes Verhältnis die seelische Tüchtigkeit oder Tugend ausmacht. Heute vollends ist es wohl nachgerade allgemein anerkannt, dass es in der Psychologie auf die Einsicht in die ursprüngliche Verbindung oder vielmehr unteilbare Einheit (Individuität) der nur ab- straktiv zu unterscheidenden Faktoren des Psychischen an- kommt; dass im seelischen Leben die Komplexion ursprüng- lich, die Zerlegung in Einzelakte zum Verständnis der Kom- plexion zwar unerlässlich ist, aber ein höheres Recht als das einer vorläufigen Abstraktion niemals beanspruchen darf. Die Grundlage dieser notwendigen Abstraktionen bieten die mannig- fachen Objektivierungen des seelischen Inhalts. Denn alle Objektivierung beruht auf Abstraktionen; handelt es sich hingegen darum, den seelischen Inhalt möglichst in seiner subjektiven Unmittelbarkeit — und das eben heisst psycho- logisch — zu erfassen, so muss die Scheidung in Gedanken wieder aufgehoben, die Verbindung allseitig wiederhergestellt werden.
Hiernach hat man auch nicht mehr zu besorgen, dass, wenn von einem Willen und einer Vernunft der Gemeinschaft die Rede ist, diese zu einem mystischen Wesen ausser den Individuen gemacht werde. Es ist allein die Frage: was er- giebt sich daraus, wenn Trieb, Wille und Vernunft der Ein- zelnen in der Gemeinschaft in Berührung treten und ihre Wirkung gleichsam summieren. Daraus folgt eine gewisse Norm, gemäss welcher sich diese drei Faktoren in der Ge- meinschaft, ebenso wie im Einzelnen, in Gleichgewicht setzen
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beruht; dass in der konkreten Vorstellung des seelischen Lebens
die Voraussetzung ursprünglich getrennter Thätigkeiten oder
Funktionen gar nicht statthaft ist. Schon Platos tiefgründige
Untersuchungen über das Verhältnis der vielen Tugenden zu
der einen, in sich unteilbaren Tugend führen über die psycho-
logische Vorstellung von drei gleich selbständigen Personen
gegen einander agierenden „Seelenteilen“ eigentlich weit hinaus,
zu der einer untrennbaren Einheit bloss begrifflich auseinander-
zuhaltender Seiten oder Richtungen der menschlichen Aktivität,
deren normales, zuletzt nach dem Grundgesetz der Idee, dem
Gesetz der Gesetzlichkeit selbst zu bestimmendes Verhältnis
die seelische Tüchtigkeit oder Tugend ausmacht. Heute vollends
ist es wohl nachgerade allgemein anerkannt, dass es in der
Psychologie auf die Einsicht in die ursprüngliche Verbindung
oder vielmehr unteilbare Einheit (Individuität) der nur ab-
straktiv zu unterscheidenden Faktoren des Psychischen an-
kommt; dass im seelischen Leben die Komplexion ursprüng-
lich, die Zerlegung in Einzelakte zum Verständnis der Kom-
plexion zwar unerlässlich ist, aber ein höheres Recht als das
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fachen Objektivierungen des seelischen Inhalts. Denn alle
Objektivierung beruht auf Abstraktionen; handelt es sich
hingegen darum, den seelischen Inhalt möglichst in seiner
subjektiven Unmittelbarkeit — und das eben heisst psycho-
logisch — zu erfassen, so muss die Scheidung in Gedanken
wieder aufgehoben, die Verbindung allseitig wiederhergestellt
werden.
Hiernach hat man auch nicht mehr zu besorgen, dass,
wenn von einem Willen und einer Vernunft der Gemeinschaft
die Rede ist, diese zu einem mystischen Wesen ausser den
Individuen gemacht werde. Es ist allein die Frage: was er-
giebt sich daraus, wenn Trieb, Wille und Vernunft der Ein-
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/105>, abgerufen am 22.11.2024.
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