müssen, wenn nicht die Gemeinschaft zerfallen, sondern das einheitliche Zusammenwirken der Einzelnen sich erhalten und fördern soll.
Uebrigens ist auch schon bei Plato die Ableitung im letzten Grunde nicht psychologisch, sondern objektiv. Seinen psychologischen Einteilungen liegen ethische Unterscheidungen bereits stillschweigend zu Grunde. Der fundamentale Gegen- satz des Sinnlichen und Vernünftigen entstammt dem Kern- gedanken der Ideenlehre; er hat seine klare, objektive Be- gründung in dem inhaltlichen Verhältnis zwischen Erfahrung und Idee. Zwischen diesen beiden äussersten Enden schien ihm dann noch eine Vermittlung nötig. Diese ist mit dem platonischen thumos allerdings nur psychologisch, aber eben auch nicht zutreffend bezeichnet. Uns dagegen ergab sich als Mittelstufe der Wille (im engeren Sinn), als Ausdruck des Bewusstseins der praktischen Regel, der Maxime. Durch diesen rein objektiven Begriff erklärt sich die Tugend der Tapferkeit als entschlossene Unterordnung der Einzelhandlung unter die einmal gewählte Maxime (dass man will, was man will), des- gleichen die entsprechende Funktion im Sozialleben, nämlich die regierende im weitesten Verstand, ungleich besser als durch den platonischen thumos, der an sich ganz dem Gebiete des Triebs angehört, wenn auch gleichsam die dem Willen zu- gekehrte aktive Seite des Triebs darstellt. Plato selbst hat anderwärts die Tapferkeit, wie die Tugend überhaupt, von allem Triebartigen, fast allzuschroff, geschieden. Die Un- zulänglichkeit seines psychologischen Schemas verrät ferner seine vierte Tugend, die der Gerechtigkeit. Sie stellt bei ihm eigentlich nur die Vereinigung der drei andern dar; dann hätte sie aber nicht diesen koordiniert werden dürfen. In der That kommt dieser Tugend eine eigenartige Stellung zu. Sie ist aus der Reihe der individuellen Tugenden nicht zu streichen, aber sie bezeichnet nur die der Gemeinschaft zugewandte Seite der individuellen Tugend, den Sozialcharakter des Sittlichen, sofern er eine Grundlage in der Individualität doch haben muss. Sie liegt somit gleichsam auf dem Punkte des Ueber- gangs von der individualen zur eigentlich sozialen Tugend,
müssen, wenn nicht die Gemeinschaft zerfallen, sondern das einheitliche Zusammenwirken der Einzelnen sich erhalten und fördern soll.
Uebrigens ist auch schon bei Plato die Ableitung im letzten Grunde nicht psychologisch, sondern objektiv. Seinen psychologischen Einteilungen liegen ethische Unterscheidungen bereits stillschweigend zu Grunde. Der fundamentale Gegen- satz des Sinnlichen und Vernünftigen entstammt dem Kern- gedanken der Ideenlehre; er hat seine klare, objektive Be- gründung in dem inhaltlichen Verhältnis zwischen Erfahrung und Idee. Zwischen diesen beiden äussersten Enden schien ihm dann noch eine Vermittlung nötig. Diese ist mit dem platonischen ϑυμός allerdings nur psychologisch, aber eben auch nicht zutreffend bezeichnet. Uns dagegen ergab sich als Mittelstufe der Wille (im engeren Sinn), als Ausdruck des Bewusstseins der praktischen Regel, der Maxime. Durch diesen rein objektiven Begriff erklärt sich die Tugend der Tapferkeit als entschlossene Unterordnung der Einzelhandlung unter die einmal gewählte Maxime (dass man will, was man will), des- gleichen die entsprechende Funktion im Sozialleben, nämlich die regierende im weitesten Verstand, ungleich besser als durch den platonischen ϑυμός, der an sich ganz dem Gebiete des Triebs angehört, wenn auch gleichsam die dem Willen zu- gekehrte aktive Seite des Triebs darstellt. Plato selbst hat anderwärts die Tapferkeit, wie die Tugend überhaupt, von allem Triebartigen, fast allzuschroff, geschieden. Die Un- zulänglichkeit seines psychologischen Schemas verrät ferner seine vierte Tugend, die der Gerechtigkeit. Sie stellt bei ihm eigentlich nur die Vereinigung der drei andern dar; dann hätte sie aber nicht diesen koordiniert werden dürfen. In der That kommt dieser Tugend eine eigenartige Stellung zu. Sie ist aus der Reihe der individuellen Tugenden nicht zu streichen, aber sie bezeichnet nur die der Gemeinschaft zugewandte Seite der individuellen Tugend, den Sozialcharakter des Sittlichen, sofern er eine Grundlage in der Individualität doch haben muss. Sie liegt somit gleichsam auf dem Punkte des Ueber- gangs von der individualen zur eigentlich sozialen Tugend,
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müssen, wenn nicht die Gemeinschaft zerfallen, sondern das
einheitliche Zusammenwirken der Einzelnen sich erhalten und
fördern soll.
Uebrigens ist auch schon bei Plato die Ableitung im
letzten Grunde nicht psychologisch, sondern objektiv. Seinen
psychologischen Einteilungen liegen ethische Unterscheidungen
bereits stillschweigend zu Grunde. Der fundamentale Gegen-
satz des Sinnlichen und Vernünftigen entstammt dem Kern-
gedanken der Ideenlehre; er hat seine klare, objektive Be-
gründung in dem inhaltlichen Verhältnis zwischen Erfahrung
und Idee. Zwischen diesen beiden äussersten Enden schien
ihm dann noch eine Vermittlung nötig. Diese ist mit dem
platonischen ϑυμός allerdings nur psychologisch, aber eben
auch nicht zutreffend bezeichnet. Uns dagegen ergab sich als
Mittelstufe der Wille (im engeren Sinn), als Ausdruck des
Bewusstseins der praktischen Regel, der Maxime. Durch diesen
rein objektiven Begriff erklärt sich die Tugend der Tapferkeit
als entschlossene Unterordnung der Einzelhandlung unter die
einmal gewählte Maxime (dass man will, was man will), des-
gleichen die entsprechende Funktion im Sozialleben, nämlich
die regierende im weitesten Verstand, ungleich besser als durch
den platonischen ϑυμός, der an sich ganz dem Gebiete des
Triebs angehört, wenn auch gleichsam die dem Willen zu-
gekehrte aktive Seite des Triebs darstellt. Plato selbst hat
anderwärts die Tapferkeit, wie die Tugend überhaupt, von
allem Triebartigen, fast allzuschroff, geschieden. Die Un-
zulänglichkeit seines psychologischen Schemas verrät ferner
seine vierte Tugend, die der Gerechtigkeit. Sie stellt bei ihm
eigentlich nur die Vereinigung der drei andern dar; dann hätte
sie aber nicht diesen koordiniert werden dürfen. In der That
kommt dieser Tugend eine eigenartige Stellung zu. Sie ist
aus der Reihe der individuellen Tugenden nicht zu streichen,
aber sie bezeichnet nur die der Gemeinschaft zugewandte Seite
der individuellen Tugend, den Sozialcharakter des Sittlichen,
sofern er eine Grundlage in der Individualität doch haben
muss. Sie liegt somit gleichsam auf dem Punkte des Ueber-
gangs von der individualen zur eigentlich sozialen Tugend,
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/106>, abgerufen am 23.11.2024.
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