rasch damit bei der Hand sein, sein Leben zu wagen; ist er darum weniger tapfer? Dennoch ist die jedem so natürliche Meinung, die in der Todesbereitschaft die Probe der Tapfer- keit sieht, nicht ganz im Unrecht; nur bleibt dabei die wesent- liche Bedingung unausgesprochen: dass es ein Edler ist, der sich opfert, und für eine edle Sache. Das schliesst ferner ein, dass das Selbstopfer mit Besinnung, in voller Klarheit des Bewusstseins gebracht wird. Dies alles vorausgesetzt, ist ge- wiss die Fähigkeit, sein ganzes empirisches Dasein daranzu- geben allein für sittlichen Gewinn, die Probe höchster Sittlichkeit, allein begreiflich aus dem sicheren Bewusstsein, dass alles Empirische von bloss bedingtem, das Gute der Idee allein von unbedingtem Werte ist.
Diese Möglichkeit der Selbstopferung aus rein sittlichem Motiv, die Möglichkeit, sich eine solche Selbstopferung auch nur zu denken, verdient in der Ethik besondere Beachtung als einer der stärksten Gegengründe gegen jede bloss empirische Begründung der Moral. Man versucht sie zu stützen auf eine Berechnung der Gewinn- und Verlust-Chancen: verliere ich mehr, wenn ich mein ganzes übriges Leben darangebe, oder wenn ich mein Leben erkaufe z. B. mit Schande oder sonstiger schwerer äusserer oder innerer Strafe oder Schädigung, oder auch nur mit dem Verzicht auf Güter, die mir höher gelten als was das Leben mir sonst bieten kann? Soll man solche Berechnung gelten lassen? Es widerstrebt schon dem un- befangenen Gefühl, selbst aus der Tapferkeit eine Berechnung zu machen. Bedeutet sie den unbedingten Einsatz der em- pirischen Person für das unbedingte Gute, so ist nichts zu berechnen, da gegen den unbedingten Wert des Guten kein endlicher, empirischer Wert überhaupt in Frage kommen kann. Die Konsequenz jener Berechnung dagegen wäre, dass auch der sittliche Schaden sein empirisches Maass und die Tugend ihren Preis hätte, um den sie verkäuflich wäre, was man doch wohl nicht hat sagen wollen. Nach solcher Berechnung möchte wohl oft der Verbrecher, der an seine verruchte That den Kopf wagt, so viel und mehr Recht haben als der sittliche Held, der der Folgen seiner Aufopferung niemals völlig sicher
rasch damit bei der Hand sein, sein Leben zu wagen; ist er darum weniger tapfer? Dennoch ist die jedem so natürliche Meinung, die in der Todesbereitschaft die Probe der Tapfer- keit sieht, nicht ganz im Unrecht; nur bleibt dabei die wesent- liche Bedingung unausgesprochen: dass es ein Edler ist, der sich opfert, und für eine edle Sache. Das schliesst ferner ein, dass das Selbstopfer mit Besinnung, in voller Klarheit des Bewusstseins gebracht wird. Dies alles vorausgesetzt, ist ge- wiss die Fähigkeit, sein ganzes empirisches Dasein daranzu- geben allein für sittlichen Gewinn, die Probe höchster Sittlichkeit, allein begreiflich aus dem sicheren Bewusstsein, dass alles Empirische von bloss bedingtem, das Gute der Idee allein von unbedingtem Werte ist.
Diese Möglichkeit der Selbstopferung aus rein sittlichem Motiv, die Möglichkeit, sich eine solche Selbstopferung auch nur zu denken, verdient in der Ethik besondere Beachtung als einer der stärksten Gegengründe gegen jede bloss empirische Begründung der Moral. Man versucht sie zu stützen auf eine Berechnung der Gewinn- und Verlust-Chancen: verliere ich mehr, wenn ich mein ganzes übriges Leben darangebe, oder wenn ich mein Leben erkaufe z. B. mit Schande oder sonstiger schwerer äusserer oder innerer Strafe oder Schädigung, oder auch nur mit dem Verzicht auf Güter, die mir höher gelten als was das Leben mir sonst bieten kann? Soll man solche Berechnung gelten lassen? Es widerstrebt schon dem un- befangenen Gefühl, selbst aus der Tapferkeit eine Berechnung zu machen. Bedeutet sie den unbedingten Einsatz der em- pirischen Person für das unbedingte Gute, so ist nichts zu berechnen, da gegen den unbedingten Wert des Guten kein endlicher, empirischer Wert überhaupt in Frage kommen kann. Die Konsequenz jener Berechnung dagegen wäre, dass auch der sittliche Schaden sein empirisches Maass und die Tugend ihren Preis hätte, um den sie verkäuflich wäre, was man doch wohl nicht hat sagen wollen. Nach solcher Berechnung möchte wohl oft der Verbrecher, der an seine verruchte That den Kopf wagt, so viel und mehr Recht haben als der sittliche Held, der der Folgen seiner Aufopferung niemals völlig sicher
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[104/0120]
rasch damit bei der Hand sein, sein Leben zu wagen; ist er
darum weniger tapfer? Dennoch ist die jedem so natürliche
Meinung, die in der Todesbereitschaft die Probe der Tapfer-
keit sieht, nicht ganz im Unrecht; nur bleibt dabei die wesent-
liche Bedingung unausgesprochen: dass es ein Edler ist, der
sich opfert, und für eine edle Sache. Das schliesst ferner ein,
dass das Selbstopfer mit Besinnung, in voller Klarheit des
Bewusstseins gebracht wird. Dies alles vorausgesetzt, ist ge-
wiss die Fähigkeit, sein ganzes empirisches Dasein daranzu-
geben allein für sittlichen Gewinn, die Probe höchster Sittlichkeit,
allein begreiflich aus dem sicheren Bewusstsein, dass alles
Empirische von bloss bedingtem, das Gute der Idee allein von
unbedingtem Werte ist.
Diese Möglichkeit der Selbstopferung aus rein sittlichem
Motiv, die Möglichkeit, sich eine solche Selbstopferung auch
nur zu denken, verdient in der Ethik besondere Beachtung
als einer der stärksten Gegengründe gegen jede bloss empirische
Begründung der Moral. Man versucht sie zu stützen auf eine
Berechnung der Gewinn- und Verlust-Chancen: verliere ich
mehr, wenn ich mein ganzes übriges Leben darangebe, oder
wenn ich mein Leben erkaufe z. B. mit Schande oder sonstiger
schwerer äusserer oder innerer Strafe oder Schädigung, oder
auch nur mit dem Verzicht auf Güter, die mir höher gelten
als was das Leben mir sonst bieten kann? Soll man solche
Berechnung gelten lassen? Es widerstrebt schon dem un-
befangenen Gefühl, selbst aus der Tapferkeit eine Berechnung
zu machen. Bedeutet sie den unbedingten Einsatz der em-
pirischen Person für das unbedingte Gute, so ist nichts zu
berechnen, da gegen den unbedingten Wert des Guten kein
endlicher, empirischer Wert überhaupt in Frage kommen kann.
Die Konsequenz jener Berechnung dagegen wäre, dass auch
der sittliche Schaden sein empirisches Maass und die Tugend
ihren Preis hätte, um den sie verkäuflich wäre, was man doch
wohl nicht hat sagen wollen. Nach solcher Berechnung möchte
wohl oft der Verbrecher, der an seine verruchte That den
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/120>, abgerufen am 24.11.2024.
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