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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Maasses für unser Wollen und Handeln als der Lust. Sobald
aber nur ein Unterschied der Wahrheit einer Lust, eines
Nutzens von dem andern anerkannt wird, ist damit schon ein
selbständiger Grund des Sittlichen zugegeben. Desgleichen
lässt sich ein Vorrang des Nützlichen vor dem bloss Ange-
nehmen ohne ein von der Lust verschiedenes Prinzip nicht be-
gründen. Er ist darin begründet, dass der Mensch kein
Augenblicksgeschöpf ist; aber eben diese Erwägung führt, in
ihrer vollen Tragweite verstanden, über jede bloss empirische
Begründung hinaus. Die sittliche Tugend der Tapferkeit, so-
fern sie die Fähigkeit einschliesst, seine ganze empirische Exi-
stenz für ein bloss ideelles Gut zu opfern, macht das nur be-
sonders deutlich. Es ist nur einer der manchen Punkte, wo
die empiristische Moralbegründung entweder sittlich oder
logisch unverständlich wird: sittlich, wenn sie die Konse-
quenzen des einmal gewählten Prinzips zieht, logisch, wenn sie
sie zu ziehen unterlässt.

So wichtig übrigens für Theorie und Praxis der Sittlich-
keit die negative Seite unserer Tugend, die Fähigkeit der
Selbstopferung ist, an sich muss wohl diese Tugend, wenn
irgend eine, nicht bloss negativ und passiv, sondern positiv
und aktiv verstanden werden. Der Einsatz aller Kräfte für
das erkannte Gute zieht als Folge nach sich, dass man, wenn
nötig, auch das Leben dafür einsetzt; an sich aber fordert es
wohl grössere Tapferkeit für das Gute zu leben als dafür zu
sterben. Das Letztere ist meist Sache einer einzigen, raschen
Entschliessung, die dem sittlich klaren Menschen in klarer
Lage nicht sonderlich schwer fallen kann. Weit schwerer ist
es dagegen, die Festigkeit des sittlichen Wollens in seiner
positiven Bethätigung unter zahllosen lähmenden Einflüssen
von aussen und von innen stündlich neu zu bewähren. Plato
bemerkt irgendwo (Lach. 191), Tapferkeit habe sich zu be-
weisen nicht nur gegen Schmerz und Furcht, sondern auch
gegen Lust und Begier, und nicht nur im Standhalten, sondern
auch im Fliehen. Er hätte hinzufügen dürfen, dass es nicht
allein eine Tapferkeit gegen, sondern auch für etwas giebt, für
das Gute und alles was zum Guten dient. Uebrigens kommt

Maasses für unser Wollen und Handeln als der Lust. Sobald
aber nur ein Unterschied der Wahrheit einer Lust, eines
Nutzens von dem andern anerkannt wird, ist damit schon ein
selbständiger Grund des Sittlichen zugegeben. Desgleichen
lässt sich ein Vorrang des Nützlichen vor dem bloss Ange-
nehmen ohne ein von der Lust verschiedenes Prinzip nicht be-
gründen. Er ist darin begründet, dass der Mensch kein
Augenblicksgeschöpf ist; aber eben diese Erwägung führt, in
ihrer vollen Tragweite verstanden, über jede bloss empirische
Begründung hinaus. Die sittliche Tugend der Tapferkeit, so-
fern sie die Fähigkeit einschliesst, seine ganze empirische Exi-
stenz für ein bloss ideelles Gut zu opfern, macht das nur be-
sonders deutlich. Es ist nur einer der manchen Punkte, wo
die empiristische Moralbegründung entweder sittlich oder
logisch unverständlich wird: sittlich, wenn sie die Konse-
quenzen des einmal gewählten Prinzips zieht, logisch, wenn sie
sie zu ziehen unterlässt.

So wichtig übrigens für Theorie und Praxis der Sittlich-
keit die negative Seite unserer Tugend, die Fähigkeit der
Selbstopferung ist, an sich muss wohl diese Tugend, wenn
irgend eine, nicht bloss negativ und passiv, sondern positiv
und aktiv verstanden werden. Der Einsatz aller Kräfte für
das erkannte Gute zieht als Folge nach sich, dass man, wenn
nötig, auch das Leben dafür einsetzt; an sich aber fordert es
wohl grössere Tapferkeit für das Gute zu leben als dafür zu
sterben. Das Letztere ist meist Sache einer einzigen, raschen
Entschliessung, die dem sittlich klaren Menschen in klarer
Lage nicht sonderlich schwer fallen kann. Weit schwerer ist
es dagegen, die Festigkeit des sittlichen Wollens in seiner
positiven Bethätigung unter zahllosen lähmenden Einflüssen
von aussen und von innen stündlich neu zu bewähren. Plato
bemerkt irgendwo (Lach. 191), Tapferkeit habe sich zu be-
weisen nicht nur gegen Schmerz und Furcht, sondern auch
gegen Lust und Begier, und nicht nur im Standhalten, sondern
auch im Fliehen. Er hätte hinzufügen dürfen, dass es nicht
allein eine Tapferkeit gegen, sondern auch für etwas giebt, für
das Gute und alles was zum Guten dient. Uebrigens kommt

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[106/0122] Maasses für unser Wollen und Handeln als der Lust. Sobald aber nur ein Unterschied der Wahrheit einer Lust, eines Nutzens von dem andern anerkannt wird, ist damit schon ein selbständiger Grund des Sittlichen zugegeben. Desgleichen lässt sich ein Vorrang des Nützlichen vor dem bloss Ange- nehmen ohne ein von der Lust verschiedenes Prinzip nicht be- gründen. Er ist darin begründet, dass der Mensch kein Augenblicksgeschöpf ist; aber eben diese Erwägung führt, in ihrer vollen Tragweite verstanden, über jede bloss empirische Begründung hinaus. Die sittliche Tugend der Tapferkeit, so- fern sie die Fähigkeit einschliesst, seine ganze empirische Exi- stenz für ein bloss ideelles Gut zu opfern, macht das nur be- sonders deutlich. Es ist nur einer der manchen Punkte, wo die empiristische Moralbegründung entweder sittlich oder logisch unverständlich wird: sittlich, wenn sie die Konse- quenzen des einmal gewählten Prinzips zieht, logisch, wenn sie sie zu ziehen unterlässt. So wichtig übrigens für Theorie und Praxis der Sittlich- keit die negative Seite unserer Tugend, die Fähigkeit der Selbstopferung ist, an sich muss wohl diese Tugend, wenn irgend eine, nicht bloss negativ und passiv, sondern positiv und aktiv verstanden werden. Der Einsatz aller Kräfte für das erkannte Gute zieht als Folge nach sich, dass man, wenn nötig, auch das Leben dafür einsetzt; an sich aber fordert es wohl grössere Tapferkeit für das Gute zu leben als dafür zu sterben. Das Letztere ist meist Sache einer einzigen, raschen Entschliessung, die dem sittlich klaren Menschen in klarer Lage nicht sonderlich schwer fallen kann. Weit schwerer ist es dagegen, die Festigkeit des sittlichen Wollens in seiner positiven Bethätigung unter zahllosen lähmenden Einflüssen von aussen und von innen stündlich neu zu bewähren. Plato bemerkt irgendwo (Lach. 191), Tapferkeit habe sich zu be- weisen nicht nur gegen Schmerz und Furcht, sondern auch gegen Lust und Begier, und nicht nur im Standhalten, sondern auch im Fliehen. Er hätte hinzufügen dürfen, dass es nicht allein eine Tapferkeit gegen, sondern auch für etwas giebt, für das Gute und alles was zum Guten dient. Uebrigens kommt

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/122>, abgerufen am 24.11.2024.