Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Asketik neigt, die leibliche Fortpflanzung darstellen können
als die Art wie das Sterbliche an Unsterblichkeit, an Ewigkeit
teilhat. Dieser Sinn der Keuschheit ist völlig derselbe für
Mann und Weib; der Mann und das Weib, das nicht in diesem
hohen Sinne keusch ist, ist gemein, oder bestenfalls ein ge-
sundes unwissendes Tier. Wiederum aber ist solche Keuschheit
weit verschieden von blöder Scham: sie hält es für reiner,
die Scham in Liebe untergehen zu lassen als sie festhalten
zu wollen. Keusche Liebe hat sich nie ihrer selbst zu schämen,
sondern allein der Unkeuschheit. Dem Weibe wird also nicht
mehr Unwissenheit um das Natürliche und kindisches Grauen
davor als Tugend angerechnet; und der Mann nicht von
seinem redlichen Anteil an dieser edlen Tugend entbunden, ja
wohl der schwerere Teil der Verpflichtung und Verantwort-
lichkeit dabei ihm auferlegt. Endlich kommt so erst die positive
Seite der Reinheit zu voller Anerkennung. Es ist begreiflich,
dass gegenüber dem gewaltigsten aller natürlichen Triebe der
negative Sinn der sophrosune sich vorzugsweise aufdrängte, im
letzten Grunde aber erschöpft sie sich auch hier nicht im
Unterlassen oder passiven Geschehenlassen, sondern entfaltet
ihre ganze Tiefe erst in der Position, in der Energie des
Thuns. Sie verneint nicht das Triebleben, sondern bringt es
vielmehr erst zu seiner gesunden und damit kraftvollen Ent-
faltung. Die Fortpflanzung der Menschheit in leiblicher und
seelischer Gesundheit ist der keuschen, nicht der unkeuschen
Liebe anvertraut. Auch diese Tugend ist eine der mächtigsten
Beweisungen der Lebensenergie der Menschheit.*)

Und so will allgemein unsere dritte Tugend das Triebleben
nicht ausrotten oder entkräften oder bloss bändigen wie ein
wildes Tier, sondern es möglichst unversehrt in den Dienst
unserer sittlichen Bestimmung stellen, die, nach ihrer wesent-
lichen, inneren Beziehung zur Natur, nicht auf einen vergeb-
lichen Krieg mit dieser, sondern nur auf ihre gesunde und
reine d. i. ihrem innern Gesetz gemässe Entfaltung im Menschen
zielen kann.


*) Vgl. zu der Frage auch den Aufsatz "Ueber Sinnenglück und
Seelenfrieden", in der Zeitschrift "Die Wahrheit", Bd. 8 S. 65 ff.

Asketik neigt, die leibliche Fortpflanzung darstellen können
als die Art wie das Sterbliche an Unsterblichkeit, an Ewigkeit
teilhat. Dieser Sinn der Keuschheit ist völlig derselbe für
Mann und Weib; der Mann und das Weib, das nicht in diesem
hohen Sinne keusch ist, ist gemein, oder bestenfalls ein ge-
sundes unwissendes Tier. Wiederum aber ist solche Keuschheit
weit verschieden von blöder Scham: sie hält es für reiner,
die Scham in Liebe untergehen zu lassen als sie festhalten
zu wollen. Keusche Liebe hat sich nie ihrer selbst zu schämen,
sondern allein der Unkeuschheit. Dem Weibe wird also nicht
mehr Unwissenheit um das Natürliche und kindisches Grauen
davor als Tugend angerechnet; und der Mann nicht von
seinem redlichen Anteil an dieser edlen Tugend entbunden, ja
wohl der schwerere Teil der Verpflichtung und Verantwort-
lichkeit dabei ihm auferlegt. Endlich kommt so erst die positive
Seite der Reinheit zu voller Anerkennung. Es ist begreiflich,
dass gegenüber dem gewaltigsten aller natürlichen Triebe der
negative Sinn der σωφροσύνη sich vorzugsweise aufdrängte, im
letzten Grunde aber erschöpft sie sich auch hier nicht im
Unterlassen oder passiven Geschehenlassen, sondern entfaltet
ihre ganze Tiefe erst in der Position, in der Energie des
Thuns. Sie verneint nicht das Triebleben, sondern bringt es
vielmehr erst zu seiner gesunden und damit kraftvollen Ent-
faltung. Die Fortpflanzung der Menschheit in leiblicher und
seelischer Gesundheit ist der keuschen, nicht der unkeuschen
Liebe anvertraut. Auch diese Tugend ist eine der mächtigsten
Beweisungen der Lebensenergie der Menschheit.*)

Und so will allgemein unsere dritte Tugend das Triebleben
nicht ausrotten oder entkräften oder bloss bändigen wie ein
wildes Tier, sondern es möglichst unversehrt in den Dienst
unserer sittlichen Bestimmung stellen, die, nach ihrer wesent-
lichen, inneren Beziehung zur Natur, nicht auf einen vergeb-
lichen Krieg mit dieser, sondern nur auf ihre gesunde und
reine d. i. ihrem innern Gesetz gemässe Entfaltung im Menschen
zielen kann.


*) Vgl. zu der Frage auch den Aufsatz „Ueber Sinnenglück und
Seelenfrieden“, in der Zeitschrift „Die Wahrheit“, Bd. 8 S. 65 ff.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0131" n="115"/>
Asketik neigt, die leibliche Fortpflanzung darstellen können<lb/>
als die Art wie das Sterbliche an Unsterblichkeit, an Ewigkeit<lb/>
teilhat. Dieser Sinn der Keuschheit ist völlig derselbe für<lb/>
Mann und Weib; der Mann und das Weib, das nicht in diesem<lb/>
hohen Sinne keusch ist, ist gemein, oder bestenfalls ein ge-<lb/>
sundes unwissendes Tier. Wiederum aber ist solche Keuschheit<lb/>
weit verschieden von blöder Scham: sie hält es für reiner,<lb/>
die Scham in Liebe untergehen zu lassen als sie festhalten<lb/>
zu wollen. Keusche Liebe hat sich nie ihrer selbst zu schämen,<lb/>
sondern allein der Unkeuschheit. Dem Weibe wird also nicht<lb/>
mehr Unwissenheit um das Natürliche und kindisches Grauen<lb/>
davor als Tugend angerechnet; und der Mann nicht von<lb/>
seinem redlichen Anteil an dieser edlen Tugend entbunden, ja<lb/>
wohl der schwerere Teil der Verpflichtung und Verantwort-<lb/>
lichkeit dabei ihm auferlegt. Endlich kommt so erst die positive<lb/>
Seite der Reinheit zu voller Anerkennung. Es ist begreiflich,<lb/>
dass gegenüber dem gewaltigsten aller natürlichen Triebe der<lb/>
negative Sinn der &#x03C3;&#x03C9;&#x03C6;&#x03C1;&#x03BF;&#x03C3;&#x03CD;&#x03BD;&#x03B7; sich vorzugsweise aufdrängte, im<lb/>
letzten Grunde aber erschöpft sie sich auch hier nicht im<lb/>
Unterlassen oder passiven Geschehenlassen, sondern entfaltet<lb/>
ihre ganze Tiefe erst in der Position, in der Energie des<lb/>
Thuns. Sie verneint nicht das Triebleben, sondern bringt es<lb/>
vielmehr erst zu seiner gesunden und damit kraftvollen Ent-<lb/>
faltung. Die Fortpflanzung der Menschheit in leiblicher und<lb/>
seelischer Gesundheit ist der keuschen, nicht der unkeuschen<lb/>
Liebe anvertraut. Auch diese Tugend ist eine der mächtigsten<lb/>
Beweisungen der Lebensenergie der Menschheit.<note place="foot" n="*)">Vgl. zu der Frage auch den Aufsatz &#x201E;Ueber Sinnenglück und<lb/>
Seelenfrieden&#x201C;, in der Zeitschrift &#x201E;Die Wahrheit&#x201C;, Bd. 8 S. 65 ff.</note></p><lb/>
            <p>Und so will allgemein unsere dritte Tugend das Triebleben<lb/>
nicht ausrotten oder entkräften oder bloss bändigen wie ein<lb/>
wildes Tier, sondern es möglichst unversehrt in den Dienst<lb/>
unserer sittlichen Bestimmung stellen, die, nach ihrer wesent-<lb/>
lichen, inneren Beziehung zur Natur, nicht auf einen vergeb-<lb/>
lichen Krieg mit dieser, sondern nur auf ihre gesunde und<lb/>
reine d. i. ihrem innern Gesetz gemässe Entfaltung im Menschen<lb/>
zielen kann.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[115/0131] Asketik neigt, die leibliche Fortpflanzung darstellen können als die Art wie das Sterbliche an Unsterblichkeit, an Ewigkeit teilhat. Dieser Sinn der Keuschheit ist völlig derselbe für Mann und Weib; der Mann und das Weib, das nicht in diesem hohen Sinne keusch ist, ist gemein, oder bestenfalls ein ge- sundes unwissendes Tier. Wiederum aber ist solche Keuschheit weit verschieden von blöder Scham: sie hält es für reiner, die Scham in Liebe untergehen zu lassen als sie festhalten zu wollen. Keusche Liebe hat sich nie ihrer selbst zu schämen, sondern allein der Unkeuschheit. Dem Weibe wird also nicht mehr Unwissenheit um das Natürliche und kindisches Grauen davor als Tugend angerechnet; und der Mann nicht von seinem redlichen Anteil an dieser edlen Tugend entbunden, ja wohl der schwerere Teil der Verpflichtung und Verantwort- lichkeit dabei ihm auferlegt. Endlich kommt so erst die positive Seite der Reinheit zu voller Anerkennung. Es ist begreiflich, dass gegenüber dem gewaltigsten aller natürlichen Triebe der negative Sinn der σωφροσύνη sich vorzugsweise aufdrängte, im letzten Grunde aber erschöpft sie sich auch hier nicht im Unterlassen oder passiven Geschehenlassen, sondern entfaltet ihre ganze Tiefe erst in der Position, in der Energie des Thuns. Sie verneint nicht das Triebleben, sondern bringt es vielmehr erst zu seiner gesunden und damit kraftvollen Ent- faltung. Die Fortpflanzung der Menschheit in leiblicher und seelischer Gesundheit ist der keuschen, nicht der unkeuschen Liebe anvertraut. Auch diese Tugend ist eine der mächtigsten Beweisungen der Lebensenergie der Menschheit. *) Und so will allgemein unsere dritte Tugend das Triebleben nicht ausrotten oder entkräften oder bloss bändigen wie ein wildes Tier, sondern es möglichst unversehrt in den Dienst unserer sittlichen Bestimmung stellen, die, nach ihrer wesent- lichen, inneren Beziehung zur Natur, nicht auf einen vergeb- lichen Krieg mit dieser, sondern nur auf ihre gesunde und reine d. i. ihrem innern Gesetz gemässe Entfaltung im Menschen zielen kann. *) Vgl. zu der Frage auch den Aufsatz „Ueber Sinnenglück und Seelenfrieden“, in der Zeitschrift „Die Wahrheit“, Bd. 8 S. 65 ff.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/131
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/131>, abgerufen am 25.11.2024.