So tritt denn durch diese Tugend die menschliche Sitt- lichkeit in die unmittelbarste überhaupt zulässige Beziehung zur Natur. Sie vertritt, in konkreterem Sinne als eine der vorigen Tugenden, die Erhebung alles Natürlichen, soweit irgend es dessen fähig ist, zu sittlicher Bedeutung. Alles menschliche Thun und Streben hat aber eine der Sinnlichkeit zugekehrte Seite, es beruht nicht auf Vernunft und Willen allein, sondern hat noch einen Naturgrund, den wir allgemein mit "Trieb" bezeichnet haben; auf diesen, und zwar in allen seinen Gestaltungen, bezieht sich unsere dritte Tugend. Auf den Begriff des Triebs führten wir den der Arbeit zurück; und so gehört alle eigentlich so benannte, unmittelbar auf den Stoff gerichtete, auf Sinnes- und Muskelkraft beruhende Arbeit unter die Herrschaft dieser Tugend. Der grosse Satz, der mit steigender Kultur zu immer höherer Bedeutung gelangt, von der Heiligkeit der Arbeit, ordnet sich ganz ihr unter und ist einer ihrer deutlichsten und positivsten Ausdrücke; an ihr besonders zeigt sich, dass diese wie jede andere ur- sprüngliche Tugend nicht allein oder zuerst in dem besteht, was man lässt, sondern in dem, was man thut und wie man es thut. Luther, demselben, der nach der Zeit des Mönch- tums wieder die Reinheit der Ehe betont hat, danken wir es, dass er die Heiligkeit der Arbeit und damit des "weltlichen" Berufs zu Ehren gebracht und so das Verständnis dieser hohen Tugend unserer Nation besonders tief eingeprägt hat. Die mächtige sozial-ethische Bedeutung, die darin liegt und die mit der Verschärfung der sozialen "Frage" sich nur er- höhen kann, leuchtet ein; fast die ganze Ethisierung der sozialen Frage hängt daran; sie bezieht sich, ethisch angesehen, durchaus auf die Versittlichung des sozialen Trieblebens in Arbeit und Genuss.
Ueberhaupt drängt sich in fast allen Bethätigungen dieser Tugend ihre zugleich soziale Bedeutung besonders stark auf. Begreiflich, denn je näher wir den realen Bedingungen des menschlichen Daseins kommen, je konkreter wir seine Tugend zu erfassen suchen, um so weniger lässt sich von den sozialen Beziehungen überhaupt absehen, um so dringlicher zeigt es
So tritt denn durch diese Tugend die menschliche Sitt- lichkeit in die unmittelbarste überhaupt zulässige Beziehung zur Natur. Sie vertritt, in konkreterem Sinne als eine der vorigen Tugenden, die Erhebung alles Natürlichen, soweit irgend es dessen fähig ist, zu sittlicher Bedeutung. Alles menschliche Thun und Streben hat aber eine der Sinnlichkeit zugekehrte Seite, es beruht nicht auf Vernunft und Willen allein, sondern hat noch einen Naturgrund, den wir allgemein mit „Trieb“ bezeichnet haben; auf diesen, und zwar in allen seinen Gestaltungen, bezieht sich unsere dritte Tugend. Auf den Begriff des Triebs führten wir den der Arbeit zurück; und so gehört alle eigentlich so benannte, unmittelbar auf den Stoff gerichtete, auf Sinnes- und Muskelkraft beruhende Arbeit unter die Herrschaft dieser Tugend. Der grosse Satz, der mit steigender Kultur zu immer höherer Bedeutung gelangt, von der Heiligkeit der Arbeit, ordnet sich ganz ihr unter und ist einer ihrer deutlichsten und positivsten Ausdrücke; an ihr besonders zeigt sich, dass diese wie jede andere ur- sprüngliche Tugend nicht allein oder zuerst in dem besteht, was man lässt, sondern in dem, was man thut und wie man es thut. Luther, demselben, der nach der Zeit des Mönch- tums wieder die Reinheit der Ehe betont hat, danken wir es, dass er die Heiligkeit der Arbeit und damit des „weltlichen“ Berufs zu Ehren gebracht und so das Verständnis dieser hohen Tugend unserer Nation besonders tief eingeprägt hat. Die mächtige sozial-ethische Bedeutung, die darin liegt und die mit der Verschärfung der sozialen „Frage“ sich nur er- höhen kann, leuchtet ein; fast die ganze Ethisierung der sozialen Frage hängt daran; sie bezieht sich, ethisch angesehen, durchaus auf die Versittlichung des sozialen Trieblebens in Arbeit und Genuss.
Ueberhaupt drängt sich in fast allen Bethätigungen dieser Tugend ihre zugleich soziale Bedeutung besonders stark auf. Begreiflich, denn je näher wir den realen Bedingungen des menschlichen Daseins kommen, je konkreter wir seine Tugend zu erfassen suchen, um so weniger lässt sich von den sozialen Beziehungen überhaupt absehen, um so dringlicher zeigt es
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[116/0132]
So tritt denn durch diese Tugend die menschliche Sitt-
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zur Natur. Sie vertritt, in konkreterem Sinne als eine der
vorigen Tugenden, die Erhebung alles Natürlichen, soweit
irgend es dessen fähig ist, zu sittlicher Bedeutung. Alles
menschliche Thun und Streben hat aber eine der Sinnlichkeit
zugekehrte Seite, es beruht nicht auf Vernunft und Willen
allein, sondern hat noch einen Naturgrund, den wir allgemein
mit „Trieb“ bezeichnet haben; auf diesen, und zwar in allen
seinen Gestaltungen, bezieht sich unsere dritte Tugend. Auf
den Begriff des Triebs führten wir den der Arbeit zurück;
und so gehört alle eigentlich so benannte, unmittelbar auf den
Stoff gerichtete, auf Sinnes- und Muskelkraft beruhende Arbeit
unter die Herrschaft dieser Tugend. Der grosse Satz, der
mit steigender Kultur zu immer höherer Bedeutung gelangt,
von der Heiligkeit der Arbeit, ordnet sich ganz ihr unter
und ist einer ihrer deutlichsten und positivsten Ausdrücke;
an ihr besonders zeigt sich, dass diese wie jede andere ur-
sprüngliche Tugend nicht allein oder zuerst in dem besteht,
was man lässt, sondern in dem, was man thut und wie man
es thut. Luther, demselben, der nach der Zeit des Mönch-
tums wieder die Reinheit der Ehe betont hat, danken wir es,
dass er die Heiligkeit der Arbeit und damit des „weltlichen“
Berufs zu Ehren gebracht und so das Verständnis dieser hohen
Tugend unserer Nation besonders tief eingeprägt hat. Die
mächtige sozial-ethische Bedeutung, die darin liegt und
die mit der Verschärfung der sozialen „Frage“ sich nur er-
höhen kann, leuchtet ein; fast die ganze Ethisierung der sozialen
Frage hängt daran; sie bezieht sich, ethisch angesehen,
durchaus auf die Versittlichung des sozialen Trieblebens
in Arbeit und Genuss.
Ueberhaupt drängt sich in fast allen Bethätigungen dieser
Tugend ihre zugleich soziale Bedeutung besonders stark auf.
Begreiflich, denn je näher wir den realen Bedingungen des
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/132>, abgerufen am 25.11.2024.
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