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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Gerechtigkeit als individuelle Tugend wird ihm, wenigstens
im "Staat", zum blossen Ausdruck des normalen Verhältnisses
der seelischen Grundkräfte, also nur zu einem andern Namen
für die Tugend überhaupt und als Ganzes, die ja eben in
diesem normalen Verhältnis besteht. Zugleich weiss er sie von
der Sophrosyne, die auch die innere Harmonie der Gemüts-
kräfte bedeuten soll, nicht überzeugend zu scheiden. Diesen
Verwicklungen entgeht man, indem man sich besinnt, dass die
Gemeinschaftsbeziehungen in den Individuen doch wurzeln,
also auch die Tugend der Gemeinschaft auf der individuellen
Tugend und zwar auf einer bestimmten, eben der Gemeinschaft
zugewandten Seite der individuellen Tugend beruhen muss.
So hat man es eigentlich sonst immer aufgefasst; auch Plato
selbst an andern Stellen.

Der Grund dieser Tugend ist kein anderer, als der die
Allgemeingültigkeit des Sittlichen überhaupt, d. h. seine Gül-
tigkeit nicht bloss für alle Subjekte, sondern auch in Rück-
sicht aller, begründet. Es ist der Satz der reinen Ethik, den
Kant so formuliert hat: dass in der Person eines jeden "die
Menschheit" d. i. die sittliche, die vernünftige Person, und diese
unbedingt, zu achten sei; denn es gebe nichts, das ohne Ein-
schränkung gut genannt werden könne, als allein den guten
Willen, folglich nichts, das würdig wäre, den letzten Zweck
des Sittlichen auszumachen als die Erhaltung des sittlichen
Willens in jedem, der dessen überhaupt fähig ist, d. h. in
jedem sittlicher Vernunft fähigen Subjekt, jeder "Person".

Das Moment der Gleichheit, das im Begriffe der Ge-
rechtigkeit unfraglich liegt, ist nur hieraus klar zu verstehen.
Denn von Natur sind die Menschen nicht gleich und werden
es nicht sein, auch wenn man sich die weitgehendsten Forde-
rungen an Gleichheit der äusseren Lebensbedingungen und vor-
züglich der äusseren Bedingungen geistiger Entwicklung er-
füllt denkt. Der thatsächlichen Beschaffenheit der Menschen
gegenüber ist die Gleichheit eine Fiktion, allenfalls ein Wunsch.
Als sittliche Forderung aber hat sie den klaren Sinn: dass
jeder, auch wer thatsächlich auf der niedrigsten Stufe der
Menschheit steht, des Sittlichen doch fähig ist oder befähigt

Gerechtigkeit als individuelle Tugend wird ihm, wenigstens
im „Staat“, zum blossen Ausdruck des normalen Verhältnisses
der seelischen Grundkräfte, also nur zu einem andern Namen
für die Tugend überhaupt und als Ganzes, die ja eben in
diesem normalen Verhältnis besteht. Zugleich weiss er sie von
der Sophrosyne, die auch die innere Harmonie der Gemüts-
kräfte bedeuten soll, nicht überzeugend zu scheiden. Diesen
Verwicklungen entgeht man, indem man sich besinnt, dass die
Gemeinschaftsbeziehungen in den Individuen doch wurzeln,
also auch die Tugend der Gemeinschaft auf der individuellen
Tugend und zwar auf einer bestimmten, eben der Gemeinschaft
zugewandten Seite der individuellen Tugend beruhen muss.
So hat man es eigentlich sonst immer aufgefasst; auch Plato
selbst an andern Stellen.

Der Grund dieser Tugend ist kein anderer, als der die
Allgemeingültigkeit des Sittlichen überhaupt, d. h. seine Gül-
tigkeit nicht bloss für alle Subjekte, sondern auch in Rück-
sicht aller, begründet. Es ist der Satz der reinen Ethik, den
Kant so formuliert hat: dass in der Person eines jeden „die
Menschheit“ d. i. die sittliche, die vernünftige Person, und diese
unbedingt, zu achten sei; denn es gebe nichts, das ohne Ein-
schränkung gut genannt werden könne, als allein den guten
Willen, folglich nichts, das würdig wäre, den letzten Zweck
des Sittlichen auszumachen als die Erhaltung des sittlichen
Willens in jedem, der dessen überhaupt fähig ist, d. h. in
jedem sittlicher Vernunft fähigen Subjekt, jeder „Person“.

Das Moment der Gleichheit, das im Begriffe der Ge-
rechtigkeit unfraglich liegt, ist nur hieraus klar zu verstehen.
Denn von Natur sind die Menschen nicht gleich und werden
es nicht sein, auch wenn man sich die weitgehendsten Forde-
rungen an Gleichheit der äusseren Lebensbedingungen und vor-
züglich der äusseren Bedingungen geistiger Entwicklung er-
füllt denkt. Der thatsächlichen Beschaffenheit der Menschen
gegenüber ist die Gleichheit eine Fiktion, allenfalls ein Wunsch.
Als sittliche Forderung aber hat sie den klaren Sinn: dass
jeder, auch wer thatsächlich auf der niedrigsten Stufe der
Menschheit steht, des Sittlichen doch fähig ist oder befähigt

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[121/0137] Gerechtigkeit als individuelle Tugend wird ihm, wenigstens im „Staat“, zum blossen Ausdruck des normalen Verhältnisses der seelischen Grundkräfte, also nur zu einem andern Namen für die Tugend überhaupt und als Ganzes, die ja eben in diesem normalen Verhältnis besteht. Zugleich weiss er sie von der Sophrosyne, die auch die innere Harmonie der Gemüts- kräfte bedeuten soll, nicht überzeugend zu scheiden. Diesen Verwicklungen entgeht man, indem man sich besinnt, dass die Gemeinschaftsbeziehungen in den Individuen doch wurzeln, also auch die Tugend der Gemeinschaft auf der individuellen Tugend und zwar auf einer bestimmten, eben der Gemeinschaft zugewandten Seite der individuellen Tugend beruhen muss. So hat man es eigentlich sonst immer aufgefasst; auch Plato selbst an andern Stellen. Der Grund dieser Tugend ist kein anderer, als der die Allgemeingültigkeit des Sittlichen überhaupt, d. h. seine Gül- tigkeit nicht bloss für alle Subjekte, sondern auch in Rück- sicht aller, begründet. Es ist der Satz der reinen Ethik, den Kant so formuliert hat: dass in der Person eines jeden „die Menschheit“ d. i. die sittliche, die vernünftige Person, und diese unbedingt, zu achten sei; denn es gebe nichts, das ohne Ein- schränkung gut genannt werden könne, als allein den guten Willen, folglich nichts, das würdig wäre, den letzten Zweck des Sittlichen auszumachen als die Erhaltung des sittlichen Willens in jedem, der dessen überhaupt fähig ist, d. h. in jedem sittlicher Vernunft fähigen Subjekt, jeder „Person“. Das Moment der Gleichheit, das im Begriffe der Ge- rechtigkeit unfraglich liegt, ist nur hieraus klar zu verstehen. Denn von Natur sind die Menschen nicht gleich und werden es nicht sein, auch wenn man sich die weitgehendsten Forde- rungen an Gleichheit der äusseren Lebensbedingungen und vor- züglich der äusseren Bedingungen geistiger Entwicklung er- füllt denkt. Der thatsächlichen Beschaffenheit der Menschen gegenüber ist die Gleichheit eine Fiktion, allenfalls ein Wunsch. Als sittliche Forderung aber hat sie den klaren Sinn: dass jeder, auch wer thatsächlich auf der niedrigsten Stufe der Menschheit steht, des Sittlichen doch fähig ist oder befähigt

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/137>, abgerufen am 26.11.2024.