werden kann, mindestens hätte befähigt werden können. Auch noch dem unheilbar Schlechten gegenüber (wenn es einen solchen giebt) bedeutet die Gerechtigkeit, die wir ihm schulden: dass er für seine Schlechtigkeit nicht durchaus als Einzelner ver- antwortlich zu machen ist; dass auch jeder, der sich besser glaubt, sich seiner Mitschuld an aller in der Gemeinschaft, der er zugehört, vorhandenen Schlechtigkeit bewusst wird. Auch der entartete Mensch darf im Sinne sittlicher Gerechtigkeit nicht der Bestie gleichgeachtet werden, auch der reinste sich nicht vor sittlichem Schaden sicher wähnen. Insofern gilt die Forderung der Gleichheit in unnachgiebiger Strenge. In jedem ohne Unterschied ist sittlich nichts zu achten als allein der sittliche Wille, dieser aber auch in seinem verborgensten Keim, auch als blosse, durch Nichtgebrauch vielleicht verkümmerte, aber an sich doch als vorhanden anzunehmende Anlage; und zwar unbedingt, ohne Vergleichung mit irgend einem bloss empirischen Wert.
Das ist nun aber sehr gewöhnlich und begreiflich, dass die Beurteilung eben auf die Vergleichung empirischer Werte abirrt. Daraus entspringt dann ein ganz anderer, von Gleich- heit sich weit entfernender Sinn der Gerechtigkeit, nämlich dass jedem zu teil werden solle, was er wert ist, dem Besseren Besseres, dem Schlechteren Schlechteres; das Gute, nein der Gute müsse belohnt, der Schlechte bestraft werden. Das hält man vielleicht für die von Plato empfohlene "geo- metrische" d. i. proportionale Gleichheit. Es giebt aber eine seltsame Proportion, wenn gut und schlecht dabei so ganz Verschiedenes bedeuten: das eine Mal das Maass des Gutseins, der persönlichen Tugend, das andere Mal das Maass des Guten, das man geniesst, nämlich des Anteils an äusseren Gütern und Vorteilen, an Besitz, Macht, Ansehen, öffentlicher Auszeichnung und allem was von dieser Ordnung ist. Aber das hat wenig- stens Plato nicht gemeint, dass Tugend käuflich sein sollte um solche Münze, dass äussere Ehre und klingender Lohn für Tugend der Sinn der Gerechtigkeit sei; er hat das genaue Gegenteil davon mit schneidender Schärfe betont: dass das Gerechte gerecht ist auch verborgen vor Göttern und Menschen,
werden kann, mindestens hätte befähigt werden können. Auch noch dem unheilbar Schlechten gegenüber (wenn es einen solchen giebt) bedeutet die Gerechtigkeit, die wir ihm schulden: dass er für seine Schlechtigkeit nicht durchaus als Einzelner ver- antwortlich zu machen ist; dass auch jeder, der sich besser glaubt, sich seiner Mitschuld an aller in der Gemeinschaft, der er zugehört, vorhandenen Schlechtigkeit bewusst wird. Auch der entartete Mensch darf im Sinne sittlicher Gerechtigkeit nicht der Bestie gleichgeachtet werden, auch der reinste sich nicht vor sittlichem Schaden sicher wähnen. Insofern gilt die Forderung der Gleichheit in unnachgiebiger Strenge. In jedem ohne Unterschied ist sittlich nichts zu achten als allein der sittliche Wille, dieser aber auch in seinem verborgensten Keim, auch als blosse, durch Nichtgebrauch vielleicht verkümmerte, aber an sich doch als vorhanden anzunehmende Anlage; und zwar unbedingt, ohne Vergleichung mit irgend einem bloss empirischen Wert.
Das ist nun aber sehr gewöhnlich und begreiflich, dass die Beurteilung eben auf die Vergleichung empirischer Werte abirrt. Daraus entspringt dann ein ganz anderer, von Gleich- heit sich weit entfernender Sinn der Gerechtigkeit, nämlich dass jedem zu teil werden solle, was er wert ist, dem Besseren Besseres, dem Schlechteren Schlechteres; das Gute, nein der Gute müsse belohnt, der Schlechte bestraft werden. Das hält man vielleicht für die von Plato empfohlene „geo- metrische“ d. i. proportionale Gleichheit. Es giebt aber eine seltsame Proportion, wenn gut und schlecht dabei so ganz Verschiedenes bedeuten: das eine Mal das Maass des Gutseins, der persönlichen Tugend, das andere Mal das Maass des Guten, das man geniesst, nämlich des Anteils an äusseren Gütern und Vorteilen, an Besitz, Macht, Ansehen, öffentlicher Auszeichnung und allem was von dieser Ordnung ist. Aber das hat wenig- stens Plato nicht gemeint, dass Tugend käuflich sein sollte um solche Münze, dass äussere Ehre und klingender Lohn für Tugend der Sinn der Gerechtigkeit sei; er hat das genaue Gegenteil davon mit schneidender Schärfe betont: dass das Gerechte gerecht ist auch verborgen vor Göttern und Menschen,
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er für seine Schlechtigkeit nicht durchaus als Einzelner ver-
antwortlich zu machen ist; dass auch jeder, der sich besser
glaubt, sich seiner Mitschuld an aller in der Gemeinschaft, der
er zugehört, vorhandenen Schlechtigkeit bewusst wird. Auch
der entartete Mensch darf im Sinne sittlicher Gerechtigkeit
nicht der Bestie gleichgeachtet werden, auch der reinste sich
nicht vor sittlichem Schaden sicher wähnen. Insofern gilt die
Forderung der Gleichheit in unnachgiebiger Strenge. In jedem
ohne Unterschied ist sittlich nichts zu achten als allein der
sittliche Wille, dieser aber auch in seinem verborgensten Keim,
auch als blosse, durch Nichtgebrauch vielleicht verkümmerte,
aber an sich doch als vorhanden anzunehmende Anlage; und
zwar unbedingt, ohne Vergleichung mit irgend einem bloss
empirischen Wert.
Das ist nun aber sehr gewöhnlich und begreiflich, dass
die Beurteilung eben auf die Vergleichung empirischer Werte
abirrt. Daraus entspringt dann ein ganz anderer, von Gleich-
heit sich weit entfernender Sinn der Gerechtigkeit, nämlich
dass jedem zu teil werden solle, was er wert ist, dem
Besseren Besseres, dem Schlechteren Schlechteres; das Gute,
nein der Gute müsse belohnt, der Schlechte bestraft werden.
Das hält man vielleicht für die von Plato empfohlene „geo-
metrische“ d. i. proportionale Gleichheit. Es giebt aber
eine seltsame Proportion, wenn gut und schlecht dabei so ganz
Verschiedenes bedeuten: das eine Mal das Maass des Gutseins,
der persönlichen Tugend, das andere Mal das Maass des Guten, das
man geniesst, nämlich des Anteils an äusseren Gütern und
Vorteilen, an Besitz, Macht, Ansehen, öffentlicher Auszeichnung
und allem was von dieser Ordnung ist. Aber das hat wenig-
stens Plato nicht gemeint, dass Tugend käuflich sein sollte um
solche Münze, dass äussere Ehre und klingender Lohn für
Tugend der Sinn der Gerechtigkeit sei; er hat das genaue
Gegenteil davon mit schneidender Schärfe betont: dass das
Gerechte gerecht ist auch verborgen vor Göttern und Menschen,
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/138>, abgerufen am 26.11.2024.
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