dem Schlechtern Schlechteres, versagt hier völlig; diese Pro- portion wäre hier schreiendste Ungerechtigkeit, sie würde sagen: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird auch noch genommen, was er hat. So kann die Gleich- heit, die der Begriff der Gerechtigkeit vorschreibt, sich empi- risch äusserst verschieden ausnehmen; Beweis genug, dass dieser Begriff nicht aus der Erfahrung geschöpft ist. Wir folgern ihn ganz schlicht aus dem Gemeinschaftscharakter des Sittlichen. Die Idee der sittlichen Gleichheit ist mit dem ent- schiedenen Willen sittlicher Gemeinschaft unzertrennlich ver- bunden. Sie kann nicht auftauchen, wo nicht eine gewisse Gemeinschaft schon besteht. Mit deren blossem Bestande ist aber auch ihre sittliche Gestaltung gefordert; und das schliesst in sich, die sittliche Gleichheit, die zuerst nur in der Idee existierte, so viel als möglich zur That und Wahrheit zu machen; denn die höchste, d. h. eben die sittliche Gemein- schaft kann nur auf dem Grunde der Gleichheit bestehen. Das Individuum wird dabei aber nicht geopfert. Mit der höchsten Tugend des Individuums, die eins ist mit der Ent- faltung seiner höchsten Kraft und Tüchtigkeit, folglich (auch nach Plato) mit seiner wahren Glückseligkeit, ist in der That nur diese Haltung gegen die Gemeinschaft, welche Gerechtig- keit heisst, vereinbar. Nur die Schlechtigkeit des Individuums wird geopfert, alles Gute an ihr kommt bei dem (im ange- gebenen Sinn) gerechten Verhältnis des Einzelnen zur Gemein- schaft vielmehr erst zur freien Entfaltung. Auch bedarf es, um das festhalten zu dürfen, nicht der gewagten Annahme einer prästabilierten Harmonie zwischen Individual- und Ge- meinschaftsleben, sondern es ergiebt sich mit Notwendigkeit so aus der Einsicht, die wir vornehmlich Plato verdanken: dass die Gestaltung des Individuallebens, gerade in sittlicher Hinsicht, von der des Gemeinschaftslebens ganz so streng ab- hängt wie umgekehrt; dass nur das eine mit dem andern, keines für sich allein einer rein sittlichen Gestaltung fähig ist.
Gerechtigkeit wird daher vom Einzelnen gefordert schon im Interesse der sittlichen Gestaltung seines individuellen Lebens, nämlich hinsichtlich seiner (thatsächlich von ihm un-
dem Schlechtern Schlechteres, versagt hier völlig; diese Pro- portion wäre hier schreiendste Ungerechtigkeit, sie würde sagen: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird auch noch genommen, was er hat. So kann die Gleich- heit, die der Begriff der Gerechtigkeit vorschreibt, sich empi- risch äusserst verschieden ausnehmen; Beweis genug, dass dieser Begriff nicht aus der Erfahrung geschöpft ist. Wir folgern ihn ganz schlicht aus dem Gemeinschaftscharakter des Sittlichen. Die Idee der sittlichen Gleichheit ist mit dem ent- schiedenen Willen sittlicher Gemeinschaft unzertrennlich ver- bunden. Sie kann nicht auftauchen, wo nicht eine gewisse Gemeinschaft schon besteht. Mit deren blossem Bestande ist aber auch ihre sittliche Gestaltung gefordert; und das schliesst in sich, die sittliche Gleichheit, die zuerst nur in der Idee existierte, so viel als möglich zur That und Wahrheit zu machen; denn die höchste, d. h. eben die sittliche Gemein- schaft kann nur auf dem Grunde der Gleichheit bestehen. Das Individuum wird dabei aber nicht geopfert. Mit der höchsten Tugend des Individuums, die eins ist mit der Ent- faltung seiner höchsten Kraft und Tüchtigkeit, folglich (auch nach Plato) mit seiner wahren Glückseligkeit, ist in der That nur diese Haltung gegen die Gemeinschaft, welche Gerechtig- keit heisst, vereinbar. Nur die Schlechtigkeit des Individuums wird geopfert, alles Gute an ihr kommt bei dem (im ange- gebenen Sinn) gerechten Verhältnis des Einzelnen zur Gemein- schaft vielmehr erst zur freien Entfaltung. Auch bedarf es, um das festhalten zu dürfen, nicht der gewagten Annahme einer prästabilierten Harmonie zwischen Individual- und Ge- meinschaftsleben, sondern es ergiebt sich mit Notwendigkeit so aus der Einsicht, die wir vornehmlich Plato verdanken: dass die Gestaltung des Individuallebens, gerade in sittlicher Hinsicht, von der des Gemeinschaftslebens ganz so streng ab- hängt wie umgekehrt; dass nur das eine mit dem andern, keines für sich allein einer rein sittlichen Gestaltung fähig ist.
Gerechtigkeit wird daher vom Einzelnen gefordert schon im Interesse der sittlichen Gestaltung seines individuellen Lebens, nämlich hinsichtlich seiner (thatsächlich von ihm un-
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dem Schlechtern Schlechteres, versagt hier völlig; diese Pro-
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sagen: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem
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heit, die der Begriff der Gerechtigkeit vorschreibt, sich empi-
risch äusserst verschieden ausnehmen; Beweis genug, dass
dieser Begriff nicht aus der Erfahrung geschöpft ist. Wir
folgern ihn ganz schlicht aus dem Gemeinschaftscharakter des
Sittlichen. Die Idee der sittlichen Gleichheit ist mit dem ent-
schiedenen Willen sittlicher Gemeinschaft unzertrennlich ver-
bunden. Sie kann nicht auftauchen, wo nicht eine gewisse
Gemeinschaft schon besteht. Mit deren blossem Bestande ist
aber auch ihre sittliche Gestaltung gefordert; und das schliesst
in sich, die sittliche Gleichheit, die zuerst nur in der Idee
existierte, so viel als möglich zur That und Wahrheit zu
machen; denn die höchste, d. h. eben die sittliche Gemein-
schaft kann nur auf dem Grunde der Gleichheit bestehen.
Das Individuum wird dabei aber nicht geopfert. Mit der
höchsten Tugend des Individuums, die eins ist mit der Ent-
faltung seiner höchsten Kraft und Tüchtigkeit, folglich (auch
nach Plato) mit seiner wahren Glückseligkeit, ist in der That
nur diese Haltung gegen die Gemeinschaft, welche Gerechtig-
keit heisst, vereinbar. Nur die Schlechtigkeit des Individuums
wird geopfert, alles Gute an ihr kommt bei dem (im ange-
gebenen Sinn) gerechten Verhältnis des Einzelnen zur Gemein-
schaft vielmehr erst zur freien Entfaltung. Auch bedarf es,
um das festhalten zu dürfen, nicht der gewagten Annahme
einer prästabilierten Harmonie zwischen Individual- und Ge-
meinschaftsleben, sondern es ergiebt sich mit Notwendigkeit
so aus der Einsicht, die wir vornehmlich Plato verdanken:
dass die Gestaltung des Individuallebens, gerade in sittlicher
Hinsicht, von der des Gemeinschaftslebens ganz so streng ab-
hängt wie umgekehrt; dass nur das eine mit dem andern,
keines für sich allein einer rein sittlichen Gestaltung fähig ist.
Gerechtigkeit wird daher vom Einzelnen gefordert schon
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/140>, abgerufen am 26.11.2024.
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