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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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abtrennbaren) Beziehung zur Gemeinschaft. Der Einzelne
erreicht die Höhe seiner menschlich-sittlichen Bestimmung
nicht ohne die menschlich-sittliche Gestaltung seiner Beziehungen
zur Gemeinschaft.

Es folgt ebenfalls aus unserer Ableitung, dass diese Be-
ziehungen alle Seiten der menschlichen Aktivität: Trieb,
Wille und Vernunft, zugleich umspannen müssen. Dadurch
bestimmt sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu den drei
ersten Grundtugenden.

Aus der praktischen Vernunft, die die unbedingte All-
gemeinverbindlichkeit des sittlichen Gesetzes besagt, ist unsere
Tugend direkt abgeleitet, der Vernunftwille regiert also auch
sie. Insofern rückt sie der Tugend der "Wahrheit" sehr
nahe; sie ist die Wahrheit des Gemeinschaftslebens. In Aus-
drücken wie Ehrlichkeit, Redlichkeit, Treue (gegen den Andern)
kommt dies Moment deutlich zur Geltung. Ungerechtigkeit
ist immer etwas wie Lüge, Untreue, Verrat; umgekehrt, Lüge
hebt die sittliche Gleichheit und folglich die Gemeinschaft
auf; der gleiche Boden, auf dem man sich gegenüberstehen
soll, kann nur der der Wahrheit sein.

Deshalb ist die erste Lebensbedingung der Gerechtigkeit
die sittliche Einsicht. Neigung zu Gewaltthat oder Ueber-
listung, zum Vordrängen blinder selbstischer Interessen auch
in jeder verfeinerten Gestalt ist immer ein Zeichen sittlicher
Verworrenheit. Wo irgend ein blinder Instinkt die klaren
Forderungen der Gerechtigkeit vergewaltigen oder in Ver-
gessenheit bringen kann, geschieht jeder Ungerechtigkeit und
damit der Zerstörung der Gemeinschaft Vorschub, auch in
Dingen, die mit diesem besonderen Instinkt nicht zusammen-
hängen; denn jeder beliebige andere (persönliche oder Klassen-)
Instinkt fordert dann mit gleichem "Recht" -- mit dem
Rechte seiner Macht -- in dem Grade als er (im Einzelnen
oder einer Klasse) stark ist, sich durchzusetzen. Gerechtig-
keit, Gleichheit werden zu leeren Namen, wo nicht mehr An-
erkennung findet, dass in keinem Falle blinde Sympathieen
und Antipathieen, oder allgemein die Stärke nun einmal vor-
handener Strebungen und Gegenstrebungen das gegenseitige

abtrennbaren) Beziehung zur Gemeinschaft. Der Einzelne
erreicht die Höhe seiner menschlich-sittlichen Bestimmung
nicht ohne die menschlich-sittliche Gestaltung seiner Beziehungen
zur Gemeinschaft.

Es folgt ebenfalls aus unserer Ableitung, dass diese Be-
ziehungen alle Seiten der menschlichen Aktivität: Trieb,
Wille und Vernunft, zugleich umspannen müssen. Dadurch
bestimmt sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu den drei
ersten Grundtugenden.

Aus der praktischen Vernunft, die die unbedingte All-
gemeinverbindlichkeit des sittlichen Gesetzes besagt, ist unsere
Tugend direkt abgeleitet, der Vernunftwille regiert also auch
sie. Insofern rückt sie der Tugend der „Wahrheit“ sehr
nahe; sie ist die Wahrheit des Gemeinschaftslebens. In Aus-
drücken wie Ehrlichkeit, Redlichkeit, Treue (gegen den Andern)
kommt dies Moment deutlich zur Geltung. Ungerechtigkeit
ist immer etwas wie Lüge, Untreue, Verrat; umgekehrt, Lüge
hebt die sittliche Gleichheit und folglich die Gemeinschaft
auf; der gleiche Boden, auf dem man sich gegenüberstehen
soll, kann nur der der Wahrheit sein.

Deshalb ist die erste Lebensbedingung der Gerechtigkeit
die sittliche Einsicht. Neigung zu Gewaltthat oder Ueber-
listung, zum Vordrängen blinder selbstischer Interessen auch
in jeder verfeinerten Gestalt ist immer ein Zeichen sittlicher
Verworrenheit. Wo irgend ein blinder Instinkt die klaren
Forderungen der Gerechtigkeit vergewaltigen oder in Ver-
gessenheit bringen kann, geschieht jeder Ungerechtigkeit und
damit der Zerstörung der Gemeinschaft Vorschub, auch in
Dingen, die mit diesem besonderen Instinkt nicht zusammen-
hängen; denn jeder beliebige andere (persönliche oder Klassen-)
Instinkt fordert dann mit gleichem „Recht“ — mit dem
Rechte seiner Macht — in dem Grade als er (im Einzelnen
oder einer Klasse) stark ist, sich durchzusetzen. Gerechtig-
keit, Gleichheit werden zu leeren Namen, wo nicht mehr An-
erkennung findet, dass in keinem Falle blinde Sympathieen
und Antipathieen, oder allgemein die Stärke nun einmal vor-
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[125/0141] abtrennbaren) Beziehung zur Gemeinschaft. Der Einzelne erreicht die Höhe seiner menschlich-sittlichen Bestimmung nicht ohne die menschlich-sittliche Gestaltung seiner Beziehungen zur Gemeinschaft. Es folgt ebenfalls aus unserer Ableitung, dass diese Be- ziehungen alle Seiten der menschlichen Aktivität: Trieb, Wille und Vernunft, zugleich umspannen müssen. Dadurch bestimmt sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu den drei ersten Grundtugenden. Aus der praktischen Vernunft, die die unbedingte All- gemeinverbindlichkeit des sittlichen Gesetzes besagt, ist unsere Tugend direkt abgeleitet, der Vernunftwille regiert also auch sie. Insofern rückt sie der Tugend der „Wahrheit“ sehr nahe; sie ist die Wahrheit des Gemeinschaftslebens. In Aus- drücken wie Ehrlichkeit, Redlichkeit, Treue (gegen den Andern) kommt dies Moment deutlich zur Geltung. Ungerechtigkeit ist immer etwas wie Lüge, Untreue, Verrat; umgekehrt, Lüge hebt die sittliche Gleichheit und folglich die Gemeinschaft auf; der gleiche Boden, auf dem man sich gegenüberstehen soll, kann nur der der Wahrheit sein. Deshalb ist die erste Lebensbedingung der Gerechtigkeit die sittliche Einsicht. Neigung zu Gewaltthat oder Ueber- listung, zum Vordrängen blinder selbstischer Interessen auch in jeder verfeinerten Gestalt ist immer ein Zeichen sittlicher Verworrenheit. Wo irgend ein blinder Instinkt die klaren Forderungen der Gerechtigkeit vergewaltigen oder in Ver- gessenheit bringen kann, geschieht jeder Ungerechtigkeit und damit der Zerstörung der Gemeinschaft Vorschub, auch in Dingen, die mit diesem besonderen Instinkt nicht zusammen- hängen; denn jeder beliebige andere (persönliche oder Klassen-) Instinkt fordert dann mit gleichem „Recht“ — mit dem Rechte seiner Macht — in dem Grade als er (im Einzelnen oder einer Klasse) stark ist, sich durchzusetzen. Gerechtig- keit, Gleichheit werden zu leeren Namen, wo nicht mehr An- erkennung findet, dass in keinem Falle blinde Sympathieen und Antipathieen, oder allgemein die Stärke nun einmal vor- handener Strebungen und Gegenstrebungen das gegenseitige

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/141>, abgerufen am 26.11.2024.