der nur der Gewalt weicht, mit Gewalt zwingen dürfte, seiner- seits von Gewaltthat abzustehen. Dagegen darf niemals die blosse Selbstbehauptung der gegebenen Gemeinschaft, ausser- halb sittlicher Rücksicht, als etwas Gutes oder auch nur sitt- lich Indifferentes ausgegeben werden. Sie ist zu verwerfen, einfach nach dem "kategorischen Imperativ": weil dann jede thatsächlich bestehende Gemeinschaft gleiches Recht hätte sich gegen die andre zu behaupten, es also gleichermaassen sittlich begründet sein würde, dass das Gemeinwesen A das Gemein- wesen B schädige und verderbe wie umgekehrt. So hat ein ernstes religiöses Gewissen sich allzeit dagegen empört, dass derselbe angeblich einige Gott heute den Dank der Nation A entgegennehmen solle für ihren Sieg über B, und morgen den der Nation B für ihren Sieg über A. Das heisst thatsächlich Polytheismus treiben und den Monotheismus zur heuchlerischen Phrase machen. So geht die Einheit des Sittlichen verloren, wenn Selbstbehauptung einer Nation gegen die andre ausser- halb sittlicher Rücksicht zugelassen und gar als sittliche Pflicht proklamiert wird.
Ebenso sicher giebt es eine Grenze der sittlichen Ver- pflichtung gegen das positive Gesetz. Keine bloss äussere Satzung kann jemals eine unbedingte Verpflichtung auferlegen. Eine empirische Gemeinschaft kann gebieten, entweder so zu han- deln oder die Strafe auf sich zu nehmen, die sie für den Gegenfall festsetzt; aber niemals schlechthin, so zu handeln. Dem Ge- setz seiner Stadt zu gehorchen, entfloh Sokrates nicht aus dem Kerker, sondern nahm den Giftbecher, nachdem er ihn zu nehmen verurteilt war; verurteilt aber war er, weil er nicht, nach dem Gebote seiner Obrigkeit, auf seine philosophischen Unterredungen verzichten wollte, die eine sehr ernste, sittliche Kritik der gesetzlichen Zustände seiner Stadt einschlossen. Er fasste also die Pflicht gegen seine Vaterstadt, die er aufs nachdrücklichste betont, nicht dahin auf, dass er jedem Ge- bote des Staats schlechthin Folge leisten, geschweige es für gut erklären, oder auch nur von der sittlichen Kritik, in der er seinen Beruf sah, ausnehmen müsse; wohl aber, dass er im Konfliktsfall die festgesetzte Strafe auf sich nahm. Er würde
der nur der Gewalt weicht, mit Gewalt zwingen dürfte, seiner- seits von Gewaltthat abzustehen. Dagegen darf niemals die blosse Selbstbehauptung der gegebenen Gemeinschaft, ausser- halb sittlicher Rücksicht, als etwas Gutes oder auch nur sitt- lich Indifferentes ausgegeben werden. Sie ist zu verwerfen, einfach nach dem „kategorischen Imperativ“: weil dann jede thatsächlich bestehende Gemeinschaft gleiches Recht hätte sich gegen die andre zu behaupten, es also gleichermaassen sittlich begründet sein würde, dass das Gemeinwesen A das Gemein- wesen B schädige und verderbe wie umgekehrt. So hat ein ernstes religiöses Gewissen sich allzeit dagegen empört, dass derselbe angeblich einige Gott heute den Dank der Nation A entgegennehmen solle für ihren Sieg über B, und morgen den der Nation B für ihren Sieg über A. Das heisst thatsächlich Polytheismus treiben und den Monotheismus zur heuchlerischen Phrase machen. So geht die Einheit des Sittlichen verloren, wenn Selbstbehauptung einer Nation gegen die andre ausser- halb sittlicher Rücksicht zugelassen und gar als sittliche Pflicht proklamiert wird.
Ebenso sicher giebt es eine Grenze der sittlichen Ver- pflichtung gegen das positive Gesetz. Keine bloss äussere Satzung kann jemals eine unbedingte Verpflichtung auferlegen. Eine empirische Gemeinschaft kann gebieten, entweder so zu han- deln oder die Strafe auf sich zu nehmen, die sie für den Gegenfall festsetzt; aber niemals schlechthin, so zu handeln. Dem Ge- setz seiner Stadt zu gehorchen, entfloh Sokrates nicht aus dem Kerker, sondern nahm den Giftbecher, nachdem er ihn zu nehmen verurteilt war; verurteilt aber war er, weil er nicht, nach dem Gebote seiner Obrigkeit, auf seine philosophischen Unterredungen verzichten wollte, die eine sehr ernste, sittliche Kritik der gesetzlichen Zustände seiner Stadt einschlossen. Er fasste also die Pflicht gegen seine Vaterstadt, die er aufs nachdrücklichste betont, nicht dahin auf, dass er jedem Ge- bote des Staats schlechthin Folge leisten, geschweige es für gut erklären, oder auch nur von der sittlichen Kritik, in der er seinen Beruf sah, ausnehmen müsse; wohl aber, dass er im Konfliktsfall die festgesetzte Strafe auf sich nahm. Er würde
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[183/0199]
der nur der Gewalt weicht, mit Gewalt zwingen dürfte, seiner-
seits von Gewaltthat abzustehen. Dagegen darf niemals die
blosse Selbstbehauptung der gegebenen Gemeinschaft, ausser-
halb sittlicher Rücksicht, als etwas Gutes oder auch nur sitt-
lich Indifferentes ausgegeben werden. Sie ist zu verwerfen,
einfach nach dem „kategorischen Imperativ“: weil dann jede
thatsächlich bestehende Gemeinschaft gleiches Recht hätte sich
gegen die andre zu behaupten, es also gleichermaassen sittlich
begründet sein würde, dass das Gemeinwesen A das Gemein-
wesen B schädige und verderbe wie umgekehrt. So hat ein
ernstes religiöses Gewissen sich allzeit dagegen empört, dass
derselbe angeblich einige Gott heute den Dank der Nation A
entgegennehmen solle für ihren Sieg über B, und morgen den
der Nation B für ihren Sieg über A. Das heisst thatsächlich
Polytheismus treiben und den Monotheismus zur heuchlerischen
Phrase machen. So geht die Einheit des Sittlichen verloren,
wenn Selbstbehauptung einer Nation gegen die andre ausser-
halb sittlicher Rücksicht zugelassen und gar als sittliche Pflicht
proklamiert wird.
Ebenso sicher giebt es eine Grenze der sittlichen Ver-
pflichtung gegen das positive Gesetz. Keine bloss äussere Satzung
kann jemals eine unbedingte Verpflichtung auferlegen. Eine
empirische Gemeinschaft kann gebieten, entweder so zu han-
deln oder die Strafe auf sich zu nehmen, die sie für den Gegenfall
festsetzt; aber niemals schlechthin, so zu handeln. Dem Ge-
setz seiner Stadt zu gehorchen, entfloh Sokrates nicht aus dem
Kerker, sondern nahm den Giftbecher, nachdem er ihn zu
nehmen verurteilt war; verurteilt aber war er, weil er nicht,
nach dem Gebote seiner Obrigkeit, auf seine philosophischen
Unterredungen verzichten wollte, die eine sehr ernste, sittliche
Kritik der gesetzlichen Zustände seiner Stadt einschlossen.
Er fasste also die Pflicht gegen seine Vaterstadt, die er aufs
nachdrücklichste betont, nicht dahin auf, dass er jedem Ge-
bote des Staats schlechthin Folge leisten, geschweige es für gut
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/199>, abgerufen am 22.11.2024.
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