Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Somit fasst diese Tugend in ihrer sozialen wie in ihrer indi-
vidualen Bedeutung die drei andern in sich zusammen, giebt
ihnen aber die besondere Beziehung, dort auf die Gemein-
schaft, nämlich sofern sie aus Individuen besteht, hier umge-
kehrt auf die Individuen, sofern sie der Gemeinschaft angehören.
Sie besagt somit, in sozialer Hinsicht: dass an allen drei
Grundfunktionen der Gemeinschaft, nicht bloss jeder für sich,
sondern auch allen im Verhältnis zu einander, jedes Glied
der Gemeinschaft grundsätzlich gleiches Recht hat, dass jedem
sein rechtmässiges Teil, suum cuique, zukommen soll an Bil-
dung, an Regierung und an Arbeit zugleich und nach ihrem
innerlich begründeten, gesetzmässigen Verhältnis zu einander;
was ja nur das Facit aus allem Gesagten ist.

Und so braucht auch das Letzte nur eben angemerkt zu
werden: dass die dargelegte Gesetzmässigkeit des sozialen
Lebens sich auf menschliche Gemeinschaft überhaupt,
ohne Einschränkung auf irgendwelche besonderen Bedingungen
bezieht*). Unser System bietet einen Rahmen, ausreichend für
jede denkbare Erweiterung der Gemeinschaft, bis äussersten-
falls zum Ganzen des Menschengeschlechts. Das letzte Prinzip
unserer Betrachtung aber weist auch in dieser Beziehung
unwidersprechlich auf möglichst umfassende Einheit,
wiewohl auf eine solche, die die "Spezifikation", unter der
Bedingung der "Kontinuität", nicht ausschliesst.

Hiermit beschliessen wir den ethischen Teil unsrer Unter-
suchung; was übrig bleibt, gehört der eigentlichen Pädagogik
an. Das Ziel ist gezeigt; auch, dass eine Entwicklung nach
diesem Ziele hin innerlich begründet und thatsächlich ange-
bahnt ist, dürfte dargethan sein. Allein damit ist diese Ent-
wicklung noch nicht notwendig im Sinne eines Naturgesetzes.
Es ist allein gezeigt, in welcher Richtung die Menschheit fort-
schreitet, wenn sie fortschreitet. Dass sie thatsächlich fort-
schreiten müsse, folgt aus unsern Prinzipien nicht und würde
sich auch empirisch keineswegs begründen lassen. Am wenig-

*) Wie es, bezüglich des rechtlichen Faktors im besondern, auch
Stammler (S. 552) mit gutem Grunde aufstellt.

Somit fasst diese Tugend in ihrer sozialen wie in ihrer indi-
vidualen Bedeutung die drei andern in sich zusammen, giebt
ihnen aber die besondere Beziehung, dort auf die Gemein-
schaft, nämlich sofern sie aus Individuen besteht, hier umge-
kehrt auf die Individuen, sofern sie der Gemeinschaft angehören.
Sie besagt somit, in sozialer Hinsicht: dass an allen drei
Grundfunktionen der Gemeinschaft, nicht bloss jeder für sich,
sondern auch allen im Verhältnis zu einander, jedes Glied
der Gemeinschaft grundsätzlich gleiches Recht hat, dass jedem
sein rechtmässiges Teil, suum cuique, zukommen soll an Bil-
dung, an Regierung und an Arbeit zugleich und nach ihrem
innerlich begründeten, gesetzmässigen Verhältnis zu einander;
was ja nur das Facit aus allem Gesagten ist.

Und so braucht auch das Letzte nur eben angemerkt zu
werden: dass die dargelegte Gesetzmässigkeit des sozialen
Lebens sich auf menschliche Gemeinschaft überhaupt,
ohne Einschränkung auf irgendwelche besonderen Bedingungen
bezieht*). Unser System bietet einen Rahmen, ausreichend für
jede denkbare Erweiterung der Gemeinschaft, bis äussersten-
falls zum Ganzen des Menschengeschlechts. Das letzte Prinzip
unserer Betrachtung aber weist auch in dieser Beziehung
unwidersprechlich auf möglichst umfassende Einheit,
wiewohl auf eine solche, die die „Spezifikation“, unter der
Bedingung der „Kontinuität“, nicht ausschliesst.

Hiermit beschliessen wir den ethischen Teil unsrer Unter-
suchung; was übrig bleibt, gehört der eigentlichen Pädagogik
an. Das Ziel ist gezeigt; auch, dass eine Entwicklung nach
diesem Ziele hin innerlich begründet und thatsächlich ange-
bahnt ist, dürfte dargethan sein. Allein damit ist diese Ent-
wicklung noch nicht notwendig im Sinne eines Naturgesetzes.
Es ist allein gezeigt, in welcher Richtung die Menschheit fort-
schreitet, wenn sie fortschreitet. Dass sie thatsächlich fort-
schreiten müsse, folgt aus unsern Prinzipien nicht und würde
sich auch empirisch keineswegs begründen lassen. Am wenig-

*) Wie es, bezüglich des rechtlichen Faktors im besondern, auch
Stammler (S. 552) mit gutem Grunde aufstellt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0204" n="188"/>
Somit fasst diese Tugend in ihrer sozialen wie in ihrer indi-<lb/>
vidualen Bedeutung die drei andern in sich zusammen, giebt<lb/>
ihnen aber die besondere Beziehung, dort auf die Gemein-<lb/>
schaft, nämlich sofern sie aus Individuen besteht, hier umge-<lb/>
kehrt auf die Individuen, sofern sie der Gemeinschaft angehören.<lb/>
Sie besagt somit, in sozialer Hinsicht: dass an allen drei<lb/>
Grundfunktionen der Gemeinschaft, nicht bloss jeder für sich,<lb/>
sondern auch allen im Verhältnis zu einander, jedes Glied<lb/>
der Gemeinschaft grundsätzlich gleiches Recht hat, dass jedem<lb/>
sein rechtmässiges Teil, <hi rendition="#i">suum cuique</hi>, zukommen soll an Bil-<lb/>
dung, an Regierung und an Arbeit zugleich und nach ihrem<lb/>
innerlich begründeten, gesetzmässigen Verhältnis zu einander;<lb/>
was ja nur das Facit aus allem Gesagten ist.</p><lb/>
          <p>Und so braucht auch das Letzte nur eben angemerkt zu<lb/>
werden: dass die dargelegte Gesetzmässigkeit des sozialen<lb/>
Lebens sich auf <hi rendition="#g">menschliche Gemeinschaft überhaupt</hi>,<lb/>
ohne Einschränkung auf irgendwelche besonderen Bedingungen<lb/>
bezieht<note place="foot" n="*)">Wie es, bezüglich des rechtlichen Faktors im besondern, auch<lb/>
Stammler (S. 552) mit gutem Grunde aufstellt.</note>. Unser System bietet einen Rahmen, ausreichend für<lb/>
jede denkbare Erweiterung der Gemeinschaft, bis äussersten-<lb/>
falls zum Ganzen des Menschengeschlechts. Das letzte Prinzip<lb/>
unserer Betrachtung aber weist auch in dieser Beziehung<lb/>
unwidersprechlich auf <hi rendition="#g">möglichst umfassende Einheit</hi>,<lb/>
wiewohl auf eine solche, die die &#x201E;Spezifikation&#x201C;, unter der<lb/>
Bedingung der &#x201E;Kontinuität&#x201C;, nicht ausschliesst.</p><lb/>
          <p>Hiermit beschliessen wir den ethischen Teil unsrer Unter-<lb/>
suchung; was übrig bleibt, gehört der eigentlichen Pädagogik<lb/>
an. Das Ziel ist gezeigt; auch, dass eine Entwicklung nach<lb/>
diesem Ziele hin innerlich begründet und thatsächlich ange-<lb/>
bahnt ist, dürfte dargethan sein. Allein damit ist diese Ent-<lb/>
wicklung noch nicht notwendig im Sinne eines Naturgesetzes.<lb/>
Es ist allein gezeigt, in welcher Richtung die Menschheit fort-<lb/>
schreitet, <hi rendition="#g">wenn</hi> sie fortschreitet. Dass sie thatsächlich fort-<lb/>
schreiten müsse, folgt aus unsern Prinzipien nicht und würde<lb/>
sich auch empirisch keineswegs begründen lassen. Am wenig-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[188/0204] Somit fasst diese Tugend in ihrer sozialen wie in ihrer indi- vidualen Bedeutung die drei andern in sich zusammen, giebt ihnen aber die besondere Beziehung, dort auf die Gemein- schaft, nämlich sofern sie aus Individuen besteht, hier umge- kehrt auf die Individuen, sofern sie der Gemeinschaft angehören. Sie besagt somit, in sozialer Hinsicht: dass an allen drei Grundfunktionen der Gemeinschaft, nicht bloss jeder für sich, sondern auch allen im Verhältnis zu einander, jedes Glied der Gemeinschaft grundsätzlich gleiches Recht hat, dass jedem sein rechtmässiges Teil, suum cuique, zukommen soll an Bil- dung, an Regierung und an Arbeit zugleich und nach ihrem innerlich begründeten, gesetzmässigen Verhältnis zu einander; was ja nur das Facit aus allem Gesagten ist. Und so braucht auch das Letzte nur eben angemerkt zu werden: dass die dargelegte Gesetzmässigkeit des sozialen Lebens sich auf menschliche Gemeinschaft überhaupt, ohne Einschränkung auf irgendwelche besonderen Bedingungen bezieht *). Unser System bietet einen Rahmen, ausreichend für jede denkbare Erweiterung der Gemeinschaft, bis äussersten- falls zum Ganzen des Menschengeschlechts. Das letzte Prinzip unserer Betrachtung aber weist auch in dieser Beziehung unwidersprechlich auf möglichst umfassende Einheit, wiewohl auf eine solche, die die „Spezifikation“, unter der Bedingung der „Kontinuität“, nicht ausschliesst. Hiermit beschliessen wir den ethischen Teil unsrer Unter- suchung; was übrig bleibt, gehört der eigentlichen Pädagogik an. Das Ziel ist gezeigt; auch, dass eine Entwicklung nach diesem Ziele hin innerlich begründet und thatsächlich ange- bahnt ist, dürfte dargethan sein. Allein damit ist diese Ent- wicklung noch nicht notwendig im Sinne eines Naturgesetzes. Es ist allein gezeigt, in welcher Richtung die Menschheit fort- schreitet, wenn sie fortschreitet. Dass sie thatsächlich fort- schreiten müsse, folgt aus unsern Prinzipien nicht und würde sich auch empirisch keineswegs begründen lassen. Am wenig- *) Wie es, bezüglich des rechtlichen Faktors im besondern, auch Stammler (S. 552) mit gutem Grunde aufstellt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/204
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/204>, abgerufen am 21.11.2024.