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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Ansichten ab. Einseitige, aber von vieler Anschauungs-
wahrheit
unterstützte und belebte Darstellung sei nämlich
gerade geeignet ein tiefgreifendes Fundament einer
richtigen und soliden Ansicht des menschlichen
Lebens
zu gewähren. So schimmere aus der einseitigen Her-
vorkehrung des Schlechten, Tierischen im Menschen (in seinen
Tierfabeln) das Edle und Erhabene der Menschennatur
mit desto lebendigerer Kraft hervor. -- Also die Einseitigkeit
bezieht sich nur auf den Ausgangspunkt; die rechte Durch-
dringung einer Einzelansicht führt aber gerade auf das "Funda-
ment" in einer vertieften Anschauung der "Menschennatur",
die die Einseitigkeit überwindet.

Im Grunde ist es das Geheimnis aller Darstellung, die je
in der Erziehung eine tiefe und allgemeine Wirkung gethan
hat. Ein neuerer Pädagog (Felix Adler) will, in freiem An-
schluss an Herbart, die sittliche Unterweisung ganz auf drei
klassische Darstellungen gründen: Märchen und Fabeln auf
kindlichster Stufe, dann eine kleine Zahl biblischer Historien,
endlich Homer. Die Auswahl im einzelnen und die Anord-
nung im ganzen ist anfechtbar, aber hingewiesen ist damit
allerdings auf höchst bedeutende, vielleicht die bedeutendsten
Typen einer solchen Darstellung, wie wir sie fordern. Nur
sind wir der Meinung, dass jedes neue Menschenalter die Auf-
gabe wie von vorn an zu lösen hat. Es kann das Ueber-
kommene mitverwerten, aber darf nie glauben damit auszu-
reichen. Gewiss bleibt jenen klassischen Mustern, gerade in
ihrer Abweichung von der nächsten Erfahrung, ein vorzüglicher
idealisierender Wert; und sie tragen das Ihre dazu bei, die
Anschauung zu erweitern und damit die Induktion auf eine
breitere Grundlage zu stellen. Aber ohne geeignete Vermittlung
können sie für unser Leben nicht volle Realität gewinnen, und
diese Anknüpfung an das Leben selbst ist nicht nur auch eine Auf-
gabe, sondern die erste von allen, wie Pestalozzi erkannt hat;
es fehlt sonst die in Pestalozzis Sinn "elementare" Grundlage,
auf der erst jenes Andre alles sich aufbauen kann. Das Ziel
allerdings ist ein noch grösseres: Geschichte. Geschichten
aber müssen den Anfang machen, und zwar die kindlichsten.


Ansichten ab. Einseitige, aber von vieler Anschauungs-
wahrheit
unterstützte und belebte Darstellung sei nämlich
gerade geeignet ein tiefgreifendes Fundament einer
richtigen und soliden Ansicht des menschlichen
Lebens
zu gewähren. So schimmere aus der einseitigen Her-
vorkehrung des Schlechten, Tierischen im Menschen (in seinen
Tierfabeln) das Edle und Erhabene der Menschennatur
mit desto lebendigerer Kraft hervor. — Also die Einseitigkeit
bezieht sich nur auf den Ausgangspunkt; die rechte Durch-
dringung einer Einzelansicht führt aber gerade auf das „Funda-
ment“ in einer vertieften Anschauung der „Menschennatur“,
die die Einseitigkeit überwindet.

Im Grunde ist es das Geheimnis aller Darstellung, die je
in der Erziehung eine tiefe und allgemeine Wirkung gethan
hat. Ein neuerer Pädagog (Felix Adler) will, in freiem An-
schluss an Herbart, die sittliche Unterweisung ganz auf drei
klassische Darstellungen gründen: Märchen und Fabeln auf
kindlichster Stufe, dann eine kleine Zahl biblischer Historien,
endlich Homer. Die Auswahl im einzelnen und die Anord-
nung im ganzen ist anfechtbar, aber hingewiesen ist damit
allerdings auf höchst bedeutende, vielleicht die bedeutendsten
Typen einer solchen Darstellung, wie wir sie fordern. Nur
sind wir der Meinung, dass jedes neue Menschenalter die Auf-
gabe wie von vorn an zu lösen hat. Es kann das Ueber-
kommene mitverwerten, aber darf nie glauben damit auszu-
reichen. Gewiss bleibt jenen klassischen Mustern, gerade in
ihrer Abweichung von der nächsten Erfahrung, ein vorzüglicher
idealisierender Wert; und sie tragen das Ihre dazu bei, die
Anschauung zu erweitern und damit die Induktion auf eine
breitere Grundlage zu stellen. Aber ohne geeignete Vermittlung
können sie für unser Leben nicht volle Realität gewinnen, und
diese Anknüpfung an das Leben selbst ist nicht nur auch eine Auf-
gabe, sondern die erste von allen, wie Pestalozzi erkannt hat;
es fehlt sonst die in Pestalozzis Sinn „elementare“ Grundlage,
auf der erst jenes Andre alles sich aufbauen kann. Das Ziel
allerdings ist ein noch grösseres: Geschichte. Geschichten
aber müssen den Anfang machen, und zwar die kindlichsten.


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[240/0256] Ansichten ab. Einseitige, aber von vieler Anschauungs- wahrheit unterstützte und belebte Darstellung sei nämlich gerade geeignet ein tiefgreifendes Fundament einer richtigen und soliden Ansicht des menschlichen Lebens zu gewähren. So schimmere aus der einseitigen Her- vorkehrung des Schlechten, Tierischen im Menschen (in seinen Tierfabeln) das Edle und Erhabene der Menschennatur mit desto lebendigerer Kraft hervor. — Also die Einseitigkeit bezieht sich nur auf den Ausgangspunkt; die rechte Durch- dringung einer Einzelansicht führt aber gerade auf das „Funda- ment“ in einer vertieften Anschauung der „Menschennatur“, die die Einseitigkeit überwindet. Im Grunde ist es das Geheimnis aller Darstellung, die je in der Erziehung eine tiefe und allgemeine Wirkung gethan hat. Ein neuerer Pädagog (Felix Adler) will, in freiem An- schluss an Herbart, die sittliche Unterweisung ganz auf drei klassische Darstellungen gründen: Märchen und Fabeln auf kindlichster Stufe, dann eine kleine Zahl biblischer Historien, endlich Homer. Die Auswahl im einzelnen und die Anord- nung im ganzen ist anfechtbar, aber hingewiesen ist damit allerdings auf höchst bedeutende, vielleicht die bedeutendsten Typen einer solchen Darstellung, wie wir sie fordern. Nur sind wir der Meinung, dass jedes neue Menschenalter die Auf- gabe wie von vorn an zu lösen hat. Es kann das Ueber- kommene mitverwerten, aber darf nie glauben damit auszu- reichen. Gewiss bleibt jenen klassischen Mustern, gerade in ihrer Abweichung von der nächsten Erfahrung, ein vorzüglicher idealisierender Wert; und sie tragen das Ihre dazu bei, die Anschauung zu erweitern und damit die Induktion auf eine breitere Grundlage zu stellen. Aber ohne geeignete Vermittlung können sie für unser Leben nicht volle Realität gewinnen, und diese Anknüpfung an das Leben selbst ist nicht nur auch eine Auf- gabe, sondern die erste von allen, wie Pestalozzi erkannt hat; es fehlt sonst die in Pestalozzis Sinn „elementare“ Grundlage, auf der erst jenes Andre alles sich aufbauen kann. Das Ziel allerdings ist ein noch grösseres: Geschichte. Geschichten aber müssen den Anfang machen, und zwar die kindlichsten.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/256>, abgerufen am 21.11.2024.