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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Was ist denn "eine Geschichte", und was "Geschichte"?
"Eine Geschichte" nennen wir die Wiedergabe, nicht irgend
einer beliebigen menschlichen Erfahrung, sondern einer solchen,
die etwas Typisches hat, die ein charakteristisches Erlebnis
darstellt, und durch Konflikt und Lösung sich zum geschlossenen
Ganzen abrundet; eine Handlung, der Form nach von über-
sehbarem Umfang -- übersehbar je für den bisher erreichten
Standpunkt des Lernenden -- und von strenger teleologischer
Einheit, die in ihrem Inhalt irgend ein wesentliches Stück
praktischer Lehre zur Anschauung bringt. Das Moment des
Konflikts hat dabei nicht bloss die Bedeutung, die Aufmerk-
samkeit mehr zu fesseln, sondern auch, die begriffliche Lehre
vorzubereiten. Die nie bestrittene Wahrheit kommt weniger
zum Bewusstsein. Wie ein Leben ohne Kampf keiner Lehre
bedürfte, so würde es auch keine erteilen; der Streit ist, wie
der Vater der Dinge, so der Lehrmeister ihrer Erkenntnis.
Es ist somit eine nicht bloss ästhetische, sondern allgemein er-
zieherische Notwendigkeit, die ihm in der belehrenden Er-
zählung seinen Platz anweist. "Geschichte" aber ist dasselbe
im grossen, was Geschichten im kleinen. Zu der grossen
"Fundament"-Ansicht, dass man kein Einzelner ist, sondern
der Gemeinschaft, zuletzt keiner kleineren als der der Mensch-
heit angehört, soll der Heranwachsende geführt werden. Von
allem, was hierüber an anderer Stelle*) gesagt ist, finde ich
nichts zurückzunehmen; auch der Verfolg gegenwärtiger Be-
trachtung wird darauf wiederum führen.

Die "Lehre" selbst aber aus der Geschichte und den Ge-
schichten herauszuholen, ist Abstraktionsarbeit wie jede andre,
und so sei darüber nur bemerkt, dass man die Geschäfte teilen
und nicht die Lehre sich in die Geschichtserzählung selbst
voreilig eindrängen oder als langweiliges Nachwort dazu sie
um ihre unmittelbare Wirkung bringen lassen soll; sondern die
Aufgabe dieser Abstraktion ist von der Erzählung ganz ab-
zutrennen. Und zwar lasse man den Lernenden selbst sie
vollführen.


*) Religion innerhalb der Grenzen der Humanität; bes. S. 11 ff. 93 f.
Natorp, Sozialpädagogik. 16

Was ist denn „eine Geschichte“, und was „Geschichte“?
„Eine Geschichte“ nennen wir die Wiedergabe, nicht irgend
einer beliebigen menschlichen Erfahrung, sondern einer solchen,
die etwas Typisches hat, die ein charakteristisches Erlebnis
darstellt, und durch Konflikt und Lösung sich zum geschlossenen
Ganzen abrundet; eine Handlung, der Form nach von über-
sehbarem Umfang — übersehbar je für den bisher erreichten
Standpunkt des Lernenden — und von strenger teleologischer
Einheit, die in ihrem Inhalt irgend ein wesentliches Stück
praktischer Lehre zur Anschauung bringt. Das Moment des
Konflikts hat dabei nicht bloss die Bedeutung, die Aufmerk-
samkeit mehr zu fesseln, sondern auch, die begriffliche Lehre
vorzubereiten. Die nie bestrittene Wahrheit kommt weniger
zum Bewusstsein. Wie ein Leben ohne Kampf keiner Lehre
bedürfte, so würde es auch keine erteilen; der Streit ist, wie
der Vater der Dinge, so der Lehrmeister ihrer Erkenntnis.
Es ist somit eine nicht bloss ästhetische, sondern allgemein er-
zieherische Notwendigkeit, die ihm in der belehrenden Er-
zählung seinen Platz anweist. „Geschichte“ aber ist dasselbe
im grossen, was Geschichten im kleinen. Zu der grossen
„Fundament“-Ansicht, dass man kein Einzelner ist, sondern
der Gemeinschaft, zuletzt keiner kleineren als der der Mensch-
heit angehört, soll der Heranwachsende geführt werden. Von
allem, was hierüber an anderer Stelle*) gesagt ist, finde ich
nichts zurückzunehmen; auch der Verfolg gegenwärtiger Be-
trachtung wird darauf wiederum führen.

Die „Lehre“ selbst aber aus der Geschichte und den Ge-
schichten herauszuholen, ist Abstraktionsarbeit wie jede andre,
und so sei darüber nur bemerkt, dass man die Geschäfte teilen
und nicht die Lehre sich in die Geschichtserzählung selbst
voreilig eindrängen oder als langweiliges Nachwort dazu sie
um ihre unmittelbare Wirkung bringen lassen soll; sondern die
Aufgabe dieser Abstraktion ist von der Erzählung ganz ab-
zutrennen. Und zwar lasse man den Lernenden selbst sie
vollführen.


*) Religion innerhalb der Grenzen der Humanität; bes. S. 11 ff. 93 f.
Natorp, Sozialpädagogik. 16
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[241/0257] Was ist denn „eine Geschichte“, und was „Geschichte“? „Eine Geschichte“ nennen wir die Wiedergabe, nicht irgend einer beliebigen menschlichen Erfahrung, sondern einer solchen, die etwas Typisches hat, die ein charakteristisches Erlebnis darstellt, und durch Konflikt und Lösung sich zum geschlossenen Ganzen abrundet; eine Handlung, der Form nach von über- sehbarem Umfang — übersehbar je für den bisher erreichten Standpunkt des Lernenden — und von strenger teleologischer Einheit, die in ihrem Inhalt irgend ein wesentliches Stück praktischer Lehre zur Anschauung bringt. Das Moment des Konflikts hat dabei nicht bloss die Bedeutung, die Aufmerk- samkeit mehr zu fesseln, sondern auch, die begriffliche Lehre vorzubereiten. Die nie bestrittene Wahrheit kommt weniger zum Bewusstsein. Wie ein Leben ohne Kampf keiner Lehre bedürfte, so würde es auch keine erteilen; der Streit ist, wie der Vater der Dinge, so der Lehrmeister ihrer Erkenntnis. Es ist somit eine nicht bloss ästhetische, sondern allgemein er- zieherische Notwendigkeit, die ihm in der belehrenden Er- zählung seinen Platz anweist. „Geschichte“ aber ist dasselbe im grossen, was Geschichten im kleinen. Zu der grossen „Fundament“-Ansicht, dass man kein Einzelner ist, sondern der Gemeinschaft, zuletzt keiner kleineren als der der Mensch- heit angehört, soll der Heranwachsende geführt werden. Von allem, was hierüber an anderer Stelle *) gesagt ist, finde ich nichts zurückzunehmen; auch der Verfolg gegenwärtiger Be- trachtung wird darauf wiederum führen. Die „Lehre“ selbst aber aus der Geschichte und den Ge- schichten herauszuholen, ist Abstraktionsarbeit wie jede andre, und so sei darüber nur bemerkt, dass man die Geschäfte teilen und nicht die Lehre sich in die Geschichtserzählung selbst voreilig eindrängen oder als langweiliges Nachwort dazu sie um ihre unmittelbare Wirkung bringen lassen soll; sondern die Aufgabe dieser Abstraktion ist von der Erzählung ganz ab- zutrennen. Und zwar lasse man den Lernenden selbst sie vollführen. *) Religion innerhalb der Grenzen der Humanität; bes. S. 11 ff. 93 f. Natorp, Sozialpädagogik. 16

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/257>, abgerufen am 21.11.2024.