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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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eigener Seele lebendig ist, durch ausdrückliche Lehre auch zu
hellem Bewusstsein zu bringen. Aber weiterhin wird wenig-
stens der Heranwachsende doch wohl auch nach der Begrün-
dung fragen. Dann zeige man den Aufbau des sittlichen Ver-
eins der Familie und dessen Notwendigkeit im Zusammenhang
der Organisationen menschlicher Gemeinschaft überhaupt; und
so durchweg. Man sollte daher auch die zu Grunde gelegten
Stoffe, seien es biblische Geschichten oder Gesänge des Homer
oder was sonst, für die sittliche Lehre nicht allein unter dem
Gesichtspunkt der Tugendlehre fruchtbar machen, da es so
nahe liegt, auch die Lebenskreise, die Gemeinschaftsformen,
und die daraus erwachsenden sachlichen Pflichten daran auf-
zuzeigen. Ist aber diese Betrachtung einmal eingeführt, so
ordnet sich die bloss individuelle Ansicht des Sittlichen ihr
notwendig unter. Die Sache tritt beherrschend voran, und
die Aufgabe der reifenden Persönlichkeit wird es, sich zur
Höhe der Sache zu erheben.

Aus ähnlichen Erwägungen können wir auch von der be-
quemen Einteilung der Pflichten in solche gegen sich selbst
und gegen Andre keinen Gebrauch machen. Pflicht gegen
Gott, das wäre noch das Zulässigste; es erhebt wenigstens
über das Ich und Du, und zwar ohne die Persönlichkeit über-
haupt aufzuheben. An sich aber besteht sittliche Verpflichtung
einzig gegen das sittliche Gesetz oder, will man etwas Kon-
kreteres, gegen die "Menschheit in der eigenen Person und in
der Person jedes Andern". Damit ist aber schon auf das
sachliche Fundament, auf die ewige Aufgabe, "Menschheit"
an seinem Teile auferbauen zu helfen, hingewiesen und über
die blosse Personalbeziehung, die allenfalls nur eine rechtliche,
keine sittliche Verpflichtung begründen würde, hinwegge-
schritten.

Aber man soll doch Individuen, individuelle Charaktere,
nicht allgemeine "Menschen" bilden? Es sind doch werdende
Individuen, die der Erzieher vor sich hat, mit bestimmten, in-
dividuellen Anlagen, begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten,
oft überaus früh ausgeprägter Eigenart? -- Ohne Zweifel ist
selbst der Säugling schon eine kleine, oft sehr geschlossene

eigener Seele lebendig ist, durch ausdrückliche Lehre auch zu
hellem Bewusstsein zu bringen. Aber weiterhin wird wenig-
stens der Heranwachsende doch wohl auch nach der Begrün-
dung fragen. Dann zeige man den Aufbau des sittlichen Ver-
eins der Familie und dessen Notwendigkeit im Zusammenhang
der Organisationen menschlicher Gemeinschaft überhaupt; und
so durchweg. Man sollte daher auch die zu Grunde gelegten
Stoffe, seien es biblische Geschichten oder Gesänge des Homer
oder was sonst, für die sittliche Lehre nicht allein unter dem
Gesichtspunkt der Tugendlehre fruchtbar machen, da es so
nahe liegt, auch die Lebenskreise, die Gemeinschaftsformen,
und die daraus erwachsenden sachlichen Pflichten daran auf-
zuzeigen. Ist aber diese Betrachtung einmal eingeführt, so
ordnet sich die bloss individuelle Ansicht des Sittlichen ihr
notwendig unter. Die Sache tritt beherrschend voran, und
die Aufgabe der reifenden Persönlichkeit wird es, sich zur
Höhe der Sache zu erheben.

Aus ähnlichen Erwägungen können wir auch von der be-
quemen Einteilung der Pflichten in solche gegen sich selbst
und gegen Andre keinen Gebrauch machen. Pflicht gegen
Gott, das wäre noch das Zulässigste; es erhebt wenigstens
über das Ich und Du, und zwar ohne die Persönlichkeit über-
haupt aufzuheben. An sich aber besteht sittliche Verpflichtung
einzig gegen das sittliche Gesetz oder, will man etwas Kon-
kreteres, gegen die „Menschheit in der eigenen Person und in
der Person jedes Andern“. Damit ist aber schon auf das
sachliche Fundament, auf die ewige Aufgabe, „Menschheit“
an seinem Teile auferbauen zu helfen, hingewiesen und über
die blosse Personalbeziehung, die allenfalls nur eine rechtliche,
keine sittliche Verpflichtung begründen würde, hinwegge-
schritten.

Aber man soll doch Individuen, individuelle Charaktere,
nicht allgemeine „Menschen“ bilden? Es sind doch werdende
Individuen, die der Erzieher vor sich hat, mit bestimmten, in-
dividuellen Anlagen, begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten,
oft überaus früh ausgeprägter Eigenart? — Ohne Zweifel ist
selbst der Säugling schon eine kleine, oft sehr geschlossene

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[243/0259] eigener Seele lebendig ist, durch ausdrückliche Lehre auch zu hellem Bewusstsein zu bringen. Aber weiterhin wird wenig- stens der Heranwachsende doch wohl auch nach der Begrün- dung fragen. Dann zeige man den Aufbau des sittlichen Ver- eins der Familie und dessen Notwendigkeit im Zusammenhang der Organisationen menschlicher Gemeinschaft überhaupt; und so durchweg. Man sollte daher auch die zu Grunde gelegten Stoffe, seien es biblische Geschichten oder Gesänge des Homer oder was sonst, für die sittliche Lehre nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Tugendlehre fruchtbar machen, da es so nahe liegt, auch die Lebenskreise, die Gemeinschaftsformen, und die daraus erwachsenden sachlichen Pflichten daran auf- zuzeigen. Ist aber diese Betrachtung einmal eingeführt, so ordnet sich die bloss individuelle Ansicht des Sittlichen ihr notwendig unter. Die Sache tritt beherrschend voran, und die Aufgabe der reifenden Persönlichkeit wird es, sich zur Höhe der Sache zu erheben. Aus ähnlichen Erwägungen können wir auch von der be- quemen Einteilung der Pflichten in solche gegen sich selbst und gegen Andre keinen Gebrauch machen. Pflicht gegen Gott, das wäre noch das Zulässigste; es erhebt wenigstens über das Ich und Du, und zwar ohne die Persönlichkeit über- haupt aufzuheben. An sich aber besteht sittliche Verpflichtung einzig gegen das sittliche Gesetz oder, will man etwas Kon- kreteres, gegen die „Menschheit in der eigenen Person und in der Person jedes Andern“. Damit ist aber schon auf das sachliche Fundament, auf die ewige Aufgabe, „Menschheit“ an seinem Teile auferbauen zu helfen, hingewiesen und über die blosse Personalbeziehung, die allenfalls nur eine rechtliche, keine sittliche Verpflichtung begründen würde, hinwegge- schritten. Aber man soll doch Individuen, individuelle Charaktere, nicht allgemeine „Menschen“ bilden? Es sind doch werdende Individuen, die der Erzieher vor sich hat, mit bestimmten, in- dividuellen Anlagen, begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten, oft überaus früh ausgeprägter Eigenart? — Ohne Zweifel ist selbst der Säugling schon eine kleine, oft sehr geschlossene

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/259>, abgerufen am 24.11.2024.