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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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etwas von dieser seiner eigenen Entwicklung rückwärts blickend
zu verstehen. Es ist also das Kind zwar zu bilden durch
Ueberliefertes, aber die Reproduktion des Ueberlieferten wird
umso reiner und tiefer sein, je mehr sie sich der vollkommenen
ungeschichtlichen Produktion nähert. So ist es im Mathematik-
Unterricht doch das Ideal seit Platos Meno, womöglich nichts
als die Zeichen zu überliefern, alles Sachliche den Zögling
selber finden zu lassen, also überhaupt nicht mehr mitzuteilen,
als nötig oder nützlich ist, um zum Selberfinden anzuregen.
So ist alles Dichterische zwar zu überliefern, doch so, dass es
möglichst wenig als bloss Ueberliefertes wirkt, sondern als so
sehr wie nur möglich Erlebtes. Dasselbe gilt von allem, was
von freierer Reflexion, als "Aufsatz", erst mitgeteilt, dann dem
Mitgeteilten nachgeschaffen wird; der Aufsatz soll Uebung im
Selbstdenken und produktiver Darstellung, nicht bloss verständ-
nisvolle Reproduktion sein. Das alles reimt sich schlecht mit
der weit verbreiteten Ansicht, die den sprachlichen Unterricht
dem geschichtlichen geradezu einordnet.

Vielmehr sehen wir in der Weckung geschichtlichen
Verständnisses eine ganz eigene und bedeutungsvolle Aufgabe
besonders des höheren Unterrichts. Es ist doch einmal die
grosse Errungenschaft unseres klassischen Zeitalters diese Ein-
sicht, dass es eine höhere Stufe des Menschenbewusstseins ist,
die es zur Höhe geschichtlicher Erkenntnis, zum Menchheits-
bewusstsein erhebt. Das ist fortan ein nicht wieder preiszu-
gebendes Stück der "allgemeinen" d. h. keine der wesentlichen
Seiten des Menschentums vernachlässigenden Bildung. Auch
ist es gewiss, dass die Höhe des sittlichen Bewusstseins
völlig erst auf dieser Grundlage erreicht wird. Dagegen kann
ich es weder als richtig erkennen, die ethische Wirkung des
Unterrichts mit der Ausschliesslichkeit, wie es von seiten der
Herbartianer mitunter geschehen ist, auf das geschichtliche
Element zu stützen, noch darf umgekehrt der Geschichtsunter-
richt unmittelbar oder gar ausschliesslich als "Gesinnungsunter-
richt" aufgefasst werden. Es darf auf keine Weise verdunkelt
werden, dass der geschichtliche wie jeder andre Unterricht
zunächst rein intellektuellen Charakter trägt. Geschichte

etwas von dieser seiner eigenen Entwicklung rückwärts blickend
zu verstehen. Es ist also das Kind zwar zu bilden durch
Ueberliefertes, aber die Reproduktion des Ueberlieferten wird
umso reiner und tiefer sein, je mehr sie sich der vollkommenen
ungeschichtlichen Produktion nähert. So ist es im Mathematik-
Unterricht doch das Ideal seit Platos Meno, womöglich nichts
als die Zeichen zu überliefern, alles Sachliche den Zögling
selber finden zu lassen, also überhaupt nicht mehr mitzuteilen,
als nötig oder nützlich ist, um zum Selberfinden anzuregen.
So ist alles Dichterische zwar zu überliefern, doch so, dass es
möglichst wenig als bloss Ueberliefertes wirkt, sondern als so
sehr wie nur möglich Erlebtes. Dasselbe gilt von allem, was
von freierer Reflexion, als „Aufsatz“, erst mitgeteilt, dann dem
Mitgeteilten nachgeschaffen wird; der Aufsatz soll Uebung im
Selbstdenken und produktiver Darstellung, nicht bloss verständ-
nisvolle Reproduktion sein. Das alles reimt sich schlecht mit
der weit verbreiteten Ansicht, die den sprachlichen Unterricht
dem geschichtlichen geradezu einordnet.

Vielmehr sehen wir in der Weckung geschichtlichen
Verständnisses eine ganz eigene und bedeutungsvolle Aufgabe
besonders des höheren Unterrichts. Es ist doch einmal die
grosse Errungenschaft unseres klassischen Zeitalters diese Ein-
sicht, dass es eine höhere Stufe des Menschenbewusstseins ist,
die es zur Höhe geschichtlicher Erkenntnis, zum Menchheits-
bewusstsein erhebt. Das ist fortan ein nicht wieder preiszu-
gebendes Stück der „allgemeinen“ d. h. keine der wesentlichen
Seiten des Menschentums vernachlässigenden Bildung. Auch
ist es gewiss, dass die Höhe des sittlichen Bewusstseins
völlig erst auf dieser Grundlage erreicht wird. Dagegen kann
ich es weder als richtig erkennen, die ethische Wirkung des
Unterrichts mit der Ausschliesslichkeit, wie es von seiten der
Herbartianer mitunter geschehen ist, auf das geschichtliche
Element zu stützen, noch darf umgekehrt der Geschichtsunter-
richt unmittelbar oder gar ausschliesslich als „Gesinnungsunter-
richt“ aufgefasst werden. Es darf auf keine Weise verdunkelt
werden, dass der geschichtliche wie jeder andre Unterricht
zunächst rein intellektuellen Charakter trägt. Geschichte

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[286/0302] etwas von dieser seiner eigenen Entwicklung rückwärts blickend zu verstehen. Es ist also das Kind zwar zu bilden durch Ueberliefertes, aber die Reproduktion des Ueberlieferten wird umso reiner und tiefer sein, je mehr sie sich der vollkommenen ungeschichtlichen Produktion nähert. So ist es im Mathematik- Unterricht doch das Ideal seit Platos Meno, womöglich nichts als die Zeichen zu überliefern, alles Sachliche den Zögling selber finden zu lassen, also überhaupt nicht mehr mitzuteilen, als nötig oder nützlich ist, um zum Selberfinden anzuregen. So ist alles Dichterische zwar zu überliefern, doch so, dass es möglichst wenig als bloss Ueberliefertes wirkt, sondern als so sehr wie nur möglich Erlebtes. Dasselbe gilt von allem, was von freierer Reflexion, als „Aufsatz“, erst mitgeteilt, dann dem Mitgeteilten nachgeschaffen wird; der Aufsatz soll Uebung im Selbstdenken und produktiver Darstellung, nicht bloss verständ- nisvolle Reproduktion sein. Das alles reimt sich schlecht mit der weit verbreiteten Ansicht, die den sprachlichen Unterricht dem geschichtlichen geradezu einordnet. Vielmehr sehen wir in der Weckung geschichtlichen Verständnisses eine ganz eigene und bedeutungsvolle Aufgabe besonders des höheren Unterrichts. Es ist doch einmal die grosse Errungenschaft unseres klassischen Zeitalters diese Ein- sicht, dass es eine höhere Stufe des Menschenbewusstseins ist, die es zur Höhe geschichtlicher Erkenntnis, zum Menchheits- bewusstsein erhebt. Das ist fortan ein nicht wieder preiszu- gebendes Stück der „allgemeinen“ d. h. keine der wesentlichen Seiten des Menschentums vernachlässigenden Bildung. Auch ist es gewiss, dass die Höhe des sittlichen Bewusstseins völlig erst auf dieser Grundlage erreicht wird. Dagegen kann ich es weder als richtig erkennen, die ethische Wirkung des Unterrichts mit der Ausschliesslichkeit, wie es von seiten der Herbartianer mitunter geschehen ist, auf das geschichtliche Element zu stützen, noch darf umgekehrt der Geschichtsunter- richt unmittelbar oder gar ausschliesslich als „Gesinnungsunter- richt“ aufgefasst werden. Es darf auf keine Weise verdunkelt werden, dass der geschichtliche wie jeder andre Unterricht zunächst rein intellektuellen Charakter trägt. Geschichte

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/302>, abgerufen am 25.11.2024.