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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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geschichtlicher Belehrung zu wecken und eine geeignete Vor-
bereitung
dazu zu bieten. Ich leugne, dass sie das gegen-
wärtig durchweg thue. Ihr gepriesenes Mittel, die Epik, ist
an sich nicht vorschulend zu irgend welchem Geschichts-
verständnis. Denn auf Begriffe kommt es an; um aber histo-
rische Begriffe daran zu erarbeiten, sind epische, ebenso wie
dramatische Stoffe, auch wenn wirklicher Geschichte entnommen,
zugleich zu gut und zu schlecht; zu gut, weil die begriffliche
Analyse genau die epische oder dramatische, d. h. die ästhe-
tische Wirkung zunichte macht; zu schlecht, weil diese Ana-
lyse zu solchen Ergebnissen, die für ein wirkliches Geschichts-
verständnis zulangten, schwerlich führen könnte. Das würde
gelten, wenn die Epik oder Dramatik an sich die denkbar voll-
kommenste wäre; wie nun vollends, wenn der "freie Vortrag" des
Geschichtslehrers mit den seltenen Schöpfungen wirklich dich-
terischer Kraft den lächerlichen Wettstreit aufnehmen müsste!
Epik und Dramatik gehören in den Sprachunterricht, nicht
in den Geschichtsunterricht. Die universalgeschichtliche Ueber-
sicht freilich, die dem kaum den Kinderschuhen Entwachsenen
einen Begriff vom geistigen Inhalt einiger Hunderte von Menschen-
altern zu geben vorgiebt, ist eben wegen des Betrüglichen
dieses Vorgehens geradezu sittlich verwerflich. Ein chrono-
logisches Gerüst ist zwar unentbehrlich, aber man gebe es auch
bloss als Gerüst, ohne ethische oder ästhetische Zuthat, trocken
wie ein grammatisches Paradigma; es soll empfunden werden,
dass es eben nicht der Bau ist, nicht einmal der Rohbau, sondern
nur die allererste Zurüstung zu seiner sehr schwierigen und lang
währenden Aufführung. Was bleibt also übrig, als der eigent-
liche Kern des Geschichtsunterrichts auf der mittleren Schule?
Ich sehe nur eins: eine gründliche, bis zu den Quellen, wenigstens
den zugänglicheren und dabei möglichst ursprünglichen Quellen
gehende Einführung in eine oder einige wenige vorzüglich
wichtige Perioden, wie z. B. auch Treitschke sie verlangt hat.
Man legt wohl noch meist etwas übertriebenen Wert auf
"klassische" Geschichtsdarstellungen. Es ist Sache der Ge-
schichtsforscher, zu beurteilen, ob, was man dafür ansieht,
wirklich als Geschichtsdarstellung und nicht unter dem

geschichtlicher Belehrung zu wecken und eine geeignete Vor-
bereitung
dazu zu bieten. Ich leugne, dass sie das gegen-
wärtig durchweg thue. Ihr gepriesenes Mittel, die Epik, ist
an sich nicht vorschulend zu irgend welchem Geschichts-
verständnis. Denn auf Begriffe kommt es an; um aber histo-
rische Begriffe daran zu erarbeiten, sind epische, ebenso wie
dramatische Stoffe, auch wenn wirklicher Geschichte entnommen,
zugleich zu gut und zu schlecht; zu gut, weil die begriffliche
Analyse genau die epische oder dramatische, d. h. die ästhe-
tische Wirkung zunichte macht; zu schlecht, weil diese Ana-
lyse zu solchen Ergebnissen, die für ein wirkliches Geschichts-
verständnis zulangten, schwerlich führen könnte. Das würde
gelten, wenn die Epik oder Dramatik an sich die denkbar voll-
kommenste wäre; wie nun vollends, wenn der „freie Vortrag“ des
Geschichtslehrers mit den seltenen Schöpfungen wirklich dich-
terischer Kraft den lächerlichen Wettstreit aufnehmen müsste!
Epik und Dramatik gehören in den Sprachunterricht, nicht
in den Geschichtsunterricht. Die universalgeschichtliche Ueber-
sicht freilich, die dem kaum den Kinderschuhen Entwachsenen
einen Begriff vom geistigen Inhalt einiger Hunderte von Menschen-
altern zu geben vorgiebt, ist eben wegen des Betrüglichen
dieses Vorgehens geradezu sittlich verwerflich. Ein chrono-
logisches Gerüst ist zwar unentbehrlich, aber man gebe es auch
bloss als Gerüst, ohne ethische oder ästhetische Zuthat, trocken
wie ein grammatisches Paradigma; es soll empfunden werden,
dass es eben nicht der Bau ist, nicht einmal der Rohbau, sondern
nur die allererste Zurüstung zu seiner sehr schwierigen und lang
währenden Aufführung. Was bleibt also übrig, als der eigent-
liche Kern des Geschichtsunterrichts auf der mittleren Schule?
Ich sehe nur eins: eine gründliche, bis zu den Quellen, wenigstens
den zugänglicheren und dabei möglichst ursprünglichen Quellen
gehende Einführung in eine oder einige wenige vorzüglich
wichtige Perioden, wie z. B. auch Treitschke sie verlangt hat.
Man legt wohl noch meist etwas übertriebenen Wert auf
„klassische“ Geschichtsdarstellungen. Es ist Sache der Ge-
schichtsforscher, zu beurteilen, ob, was man dafür ansieht,
wirklich als Geschichtsdarstellung und nicht unter dem

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[297/0313] geschichtlicher Belehrung zu wecken und eine geeignete Vor- bereitung dazu zu bieten. Ich leugne, dass sie das gegen- wärtig durchweg thue. Ihr gepriesenes Mittel, die Epik, ist an sich nicht vorschulend zu irgend welchem Geschichts- verständnis. Denn auf Begriffe kommt es an; um aber histo- rische Begriffe daran zu erarbeiten, sind epische, ebenso wie dramatische Stoffe, auch wenn wirklicher Geschichte entnommen, zugleich zu gut und zu schlecht; zu gut, weil die begriffliche Analyse genau die epische oder dramatische, d. h. die ästhe- tische Wirkung zunichte macht; zu schlecht, weil diese Ana- lyse zu solchen Ergebnissen, die für ein wirkliches Geschichts- verständnis zulangten, schwerlich führen könnte. Das würde gelten, wenn die Epik oder Dramatik an sich die denkbar voll- kommenste wäre; wie nun vollends, wenn der „freie Vortrag“ des Geschichtslehrers mit den seltenen Schöpfungen wirklich dich- terischer Kraft den lächerlichen Wettstreit aufnehmen müsste! Epik und Dramatik gehören in den Sprachunterricht, nicht in den Geschichtsunterricht. Die universalgeschichtliche Ueber- sicht freilich, die dem kaum den Kinderschuhen Entwachsenen einen Begriff vom geistigen Inhalt einiger Hunderte von Menschen- altern zu geben vorgiebt, ist eben wegen des Betrüglichen dieses Vorgehens geradezu sittlich verwerflich. Ein chrono- logisches Gerüst ist zwar unentbehrlich, aber man gebe es auch bloss als Gerüst, ohne ethische oder ästhetische Zuthat, trocken wie ein grammatisches Paradigma; es soll empfunden werden, dass es eben nicht der Bau ist, nicht einmal der Rohbau, sondern nur die allererste Zurüstung zu seiner sehr schwierigen und lang währenden Aufführung. Was bleibt also übrig, als der eigent- liche Kern des Geschichtsunterrichts auf der mittleren Schule? Ich sehe nur eins: eine gründliche, bis zu den Quellen, wenigstens den zugänglicheren und dabei möglichst ursprünglichen Quellen gehende Einführung in eine oder einige wenige vorzüglich wichtige Perioden, wie z. B. auch Treitschke sie verlangt hat. Man legt wohl noch meist etwas übertriebenen Wert auf „klassische“ Geschichtsdarstellungen. Es ist Sache der Ge- schichtsforscher, zu beurteilen, ob, was man dafür ansieht, wirklich als Geschichtsdarstellung und nicht unter dem

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/313>, abgerufen am 26.11.2024.