Gesichtspunkt der Epik beurteilt, klassisch zu heissen verdient. Ein vom epischen Standpunkt gar nicht hervorragender, treu- herziger Bericht eines Augenzeugen, ein Brief, ja das trockenste Aktenstück kann "klassisch" sein, sofern es lediglich auf den Zeugniswert ankommt.
Auch ohne die gedachte Reform des historischen Unter- richts übrigens könnte ein tüchtiger Geschichtslehrer, neben einem guten allgemeinen Einfluss seines Unterrichts, auf den einzelnen Begabteren und Strebsamen in der angedeuteten Rich- tung sehr wohl wirken. Bedenke ich, wie ich als 15--17 jähriger über alles mir zugängliche Historische hergefallen bin, wie ich dem dankbar gewesen wäre, der mir damals für mich gang- bare Wege darin gewiesen hätte, wie die sicher nicht halb verstandene Geschichtsphilosophie Hegels, die mir der Zufall in die Hände gab, mich doch allein dadurch packte, dass sie mir endlich, statt "Erzählung", etwas von Begriff gab, so kann ich mir nicht denken, dass ein Unterricht, wie er mir vorschwebt, für diese Stufe etwa allgemein zu hoch wäre. Passt er nur für eine Auswahl von Schülern, so biete man ihn nur dieser Auswahl; aber man biete ihn, und man wird sie und sich selber befriedigen.
Der Pflicht einer eigenen Kritik von Zillers Kultur- stufentheorie bin ich wohl überhoben durch die vortreff- liche Beurteilung, die E. v. Sallwürk*) dieser Theorie seiner- zeit gewidmet hat. Zwischen dem Bildungsgang des Individuums und der Entwicklung der Gesamtkultur muss eine gewisse Uebereinstimmung in grossen und allgemeinen Zügen allerdings stattfinden. Das ideale Endziel ist eins und dasselbe, die An- fänge wenigstens vergleichbar, und der allgemeine Gang des Fortschritts, vom Einfacheren zum Komplizierteren in möglichst stetigem Uebergang, gilt, wie für jede Entwicklung, so natür- lich auch für die menschliche, individuelle wie generelle Geistes- entwicklung. Aber schon der starke Unterschied des Zeit- maasses schliesst eine irgend genauere, ein wirkliches Verständnis
*) Gesinnungsunterricht und Kulturgeschichte. Zur pädagogischen Kritik. Langensalza, Beyer. 1887.
Gesichtspunkt der Epik beurteilt, klassisch zu heissen verdient. Ein vom epischen Standpunkt gar nicht hervorragender, treu- herziger Bericht eines Augenzeugen, ein Brief, ja das trockenste Aktenstück kann „klassisch“ sein, sofern es lediglich auf den Zeugniswert ankommt.
Auch ohne die gedachte Reform des historischen Unter- richts übrigens könnte ein tüchtiger Geschichtslehrer, neben einem guten allgemeinen Einfluss seines Unterrichts, auf den einzelnen Begabteren und Strebsamen in der angedeuteten Rich- tung sehr wohl wirken. Bedenke ich, wie ich als 15—17 jähriger über alles mir zugängliche Historische hergefallen bin, wie ich dem dankbar gewesen wäre, der mir damals für mich gang- bare Wege darin gewiesen hätte, wie die sicher nicht halb verstandene Geschichtsphilosophie Hegels, die mir der Zufall in die Hände gab, mich doch allein dadurch packte, dass sie mir endlich, statt „Erzählung“, etwas von Begriff gab, so kann ich mir nicht denken, dass ein Unterricht, wie er mir vorschwebt, für diese Stufe etwa allgemein zu hoch wäre. Passt er nur für eine Auswahl von Schülern, so biete man ihn nur dieser Auswahl; aber man biete ihn, und man wird sie und sich selber befriedigen.
Der Pflicht einer eigenen Kritik von Zillers Kultur- stufentheorie bin ich wohl überhoben durch die vortreff- liche Beurteilung, die E. v. Sallwürk*) dieser Theorie seiner- zeit gewidmet hat. Zwischen dem Bildungsgang des Individuums und der Entwicklung der Gesamtkultur muss eine gewisse Uebereinstimmung in grossen und allgemeinen Zügen allerdings stattfinden. Das ideale Endziel ist eins und dasselbe, die An- fänge wenigstens vergleichbar, und der allgemeine Gang des Fortschritts, vom Einfacheren zum Komplizierteren in möglichst stetigem Uebergang, gilt, wie für jede Entwicklung, so natür- lich auch für die menschliche, individuelle wie generelle Geistes- entwicklung. Aber schon der starke Unterschied des Zeit- maasses schliesst eine irgend genauere, ein wirkliches Verständnis
*) Gesinnungsunterricht und Kulturgeschichte. Zur pädagogischen Kritik. Langensalza, Beyer. 1887.
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Gesichtspunkt der Epik beurteilt, klassisch zu heissen verdient.
Ein vom epischen Standpunkt gar nicht hervorragender, treu-
herziger Bericht eines Augenzeugen, ein Brief, ja das trockenste
Aktenstück kann „klassisch“ sein, sofern es lediglich auf den
Zeugniswert ankommt.
Auch ohne die gedachte Reform des historischen Unter-
richts übrigens könnte ein tüchtiger Geschichtslehrer, neben
einem guten allgemeinen Einfluss seines Unterrichts, auf den
einzelnen Begabteren und Strebsamen in der angedeuteten Rich-
tung sehr wohl wirken. Bedenke ich, wie ich als 15—17 jähriger
über alles mir zugängliche Historische hergefallen bin, wie ich
dem dankbar gewesen wäre, der mir damals für mich gang-
bare Wege darin gewiesen hätte, wie die sicher nicht halb
verstandene Geschichtsphilosophie Hegels, die mir der Zufall
in die Hände gab, mich doch allein dadurch packte, dass sie
mir endlich, statt „Erzählung“, etwas von Begriff gab, so
kann ich mir nicht denken, dass ein Unterricht, wie er mir
vorschwebt, für diese Stufe etwa allgemein zu hoch wäre.
Passt er nur für eine Auswahl von Schülern, so biete man ihn
nur dieser Auswahl; aber man biete ihn, und man wird sie
und sich selber befriedigen.
Der Pflicht einer eigenen Kritik von Zillers Kultur-
stufentheorie bin ich wohl überhoben durch die vortreff-
liche Beurteilung, die E. v. Sallwürk *) dieser Theorie seiner-
zeit gewidmet hat. Zwischen dem Bildungsgang des Individuums
und der Entwicklung der Gesamtkultur muss eine gewisse
Uebereinstimmung in grossen und allgemeinen Zügen allerdings
stattfinden. Das ideale Endziel ist eins und dasselbe, die An-
fänge wenigstens vergleichbar, und der allgemeine Gang des
Fortschritts, vom Einfacheren zum Komplizierteren in möglichst
stetigem Uebergang, gilt, wie für jede Entwicklung, so natür-
lich auch für die menschliche, individuelle wie generelle Geistes-
entwicklung. Aber schon der starke Unterschied des Zeit-
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*) Gesinnungsunterricht und Kulturgeschichte. Zur pädagogischen
Kritik. Langensalza, Beyer. 1887.
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/314>, abgerufen am 26.11.2024.
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