etwa eröffnende Entsprechung offenbar aus. Hat man denn kein Gefühl für den Humor der Zumutung, dass das Kind in einigen Jahren -- neben so vielem andern, das es in der- selben Zeit treibt -- die Jahrtausende der Menschengeschichte "durchleben" soll? Auch sind doch alle Bedingungen im be- sondern auf beiden Seiten über die Maassen verschieden. Die Bildung des Individuums steht ganz innerhalb einer schon weit entwickelten menschlichen Kultur und erfährt vom allerersten Anfang an deren Einwirkungen. Schon die frühesten geistigen Errungenschaften des Kindes sind von der es allenthalben um- gebenden Kultur in einer Weise mitbestimmt, dass irgend eine Gleichstellung mit dem Standpunkt des kulturlosen Men- schen sehr bald sinnlos wird. Sodann ist der Fortschritt der Gesamtkultur nichts weniger als geradlinig. Die Entwicklung des Kindes wird es auch nicht sein; aber wenigstens die Lei- tung des Kindes muss doch bemüht sein, es auf möglichst ebenem Wege vorwärts zu bringen. Das Einzige, was aus dem richtigen Grundgedanken für die Pädagogik Brauchbares mit leidlicher Sicherheit gefolgert werden kann, ist, dass unter den Denkmälern vergangener Kulturstufen wohl auch solche sich finden werden, die von typisch allgemeiner Bedeutung sind, nämlich für jede normale geistige Entwicklung notwendig zu durchlaufende Stadien in vorbildlicher Weise zum Ausdruck bringen. Aber solche typische Darstellung ist im allgemeinen Sache der Poesie. In solchem Sinne wird man den besten Märchen, der schlichten unsatirischen Tierfabel, einer Auswahl alttestamentlicher, homerischer Erzählungen, mit wenigem Andern, einen typischen Wert gewiss zuerkennen. Es brauchte keine Kulturstufentheorie, um zu verstehen, dass darin kindliche, daher dem Kindesverstand eingängliche Stadien geistiger Ent- wicklung typisch ausgeprägt sind. Aber eben indem man sie als Typen betrachtet, hebt man sie schon aus geschicht- lichem Zusammenhang heraus. Die pädagogische Wir- kung z. B. des Märchens ist davon gänzlich unabhängig, ob es vor tausend oder vor manchen tausend Jahren entstanden oder vielleicht eine geglückte Nachbildung jüngsten Datums ist; ob es aus Altindien oder aus den Wäldern Germaniens
etwa eröffnende Entsprechung offenbar aus. Hat man denn kein Gefühl für den Humor der Zumutung, dass das Kind in einigen Jahren — neben so vielem andern, das es in der- selben Zeit treibt — die Jahrtausende der Menschengeschichte „durchleben“ soll? Auch sind doch alle Bedingungen im be- sondern auf beiden Seiten über die Maassen verschieden. Die Bildung des Individuums steht ganz innerhalb einer schon weit entwickelten menschlichen Kultur und erfährt vom allerersten Anfang an deren Einwirkungen. Schon die frühesten geistigen Errungenschaften des Kindes sind von der es allenthalben um- gebenden Kultur in einer Weise mitbestimmt, dass irgend eine Gleichstellung mit dem Standpunkt des kulturlosen Men- schen sehr bald sinnlos wird. Sodann ist der Fortschritt der Gesamtkultur nichts weniger als geradlinig. Die Entwicklung des Kindes wird es auch nicht sein; aber wenigstens die Lei- tung des Kindes muss doch bemüht sein, es auf möglichst ebenem Wege vorwärts zu bringen. Das Einzige, was aus dem richtigen Grundgedanken für die Pädagogik Brauchbares mit leidlicher Sicherheit gefolgert werden kann, ist, dass unter den Denkmälern vergangener Kulturstufen wohl auch solche sich finden werden, die von typisch allgemeiner Bedeutung sind, nämlich für jede normale geistige Entwicklung notwendig zu durchlaufende Stadien in vorbildlicher Weise zum Ausdruck bringen. Aber solche typische Darstellung ist im allgemeinen Sache der Poesie. In solchem Sinne wird man den besten Märchen, der schlichten unsatirischen Tierfabel, einer Auswahl alttestamentlicher, homerischer Erzählungen, mit wenigem Andern, einen typischen Wert gewiss zuerkennen. Es brauchte keine Kulturstufentheorie, um zu verstehen, dass darin kindliche, daher dem Kindesverstand eingängliche Stadien geistiger Ent- wicklung typisch ausgeprägt sind. Aber eben indem man sie als Typen betrachtet, hebt man sie schon aus geschicht- lichem Zusammenhang heraus. Die pädagogische Wir- kung z. B. des Märchens ist davon gänzlich unabhängig, ob es vor tausend oder vor manchen tausend Jahren entstanden oder vielleicht eine geglückte Nachbildung jüngsten Datums ist; ob es aus Altindien oder aus den Wäldern Germaniens
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etwa eröffnende Entsprechung offenbar aus. Hat man denn
kein Gefühl für den Humor der Zumutung, dass das Kind
in einigen Jahren — neben so vielem andern, das es in der-
selben Zeit treibt — die Jahrtausende der Menschengeschichte
„durchleben“ soll? Auch sind doch alle Bedingungen im be-
sondern auf beiden Seiten über die Maassen verschieden. Die
Bildung des Individuums steht ganz innerhalb einer schon weit
entwickelten menschlichen Kultur und erfährt vom allerersten
Anfang an deren Einwirkungen. Schon die frühesten geistigen
Errungenschaften des Kindes sind von der es allenthalben um-
gebenden Kultur in einer Weise mitbestimmt, dass irgend
eine Gleichstellung mit dem Standpunkt des kulturlosen Men-
schen sehr bald sinnlos wird. Sodann ist der Fortschritt der
Gesamtkultur nichts weniger als geradlinig. Die Entwicklung
des Kindes wird es auch nicht sein; aber wenigstens die Lei-
tung des Kindes muss doch bemüht sein, es auf möglichst
ebenem Wege vorwärts zu bringen. Das Einzige, was aus dem
richtigen Grundgedanken für die Pädagogik Brauchbares mit
leidlicher Sicherheit gefolgert werden kann, ist, dass unter den
Denkmälern vergangener Kulturstufen wohl auch solche sich
finden werden, die von typisch allgemeiner Bedeutung sind,
nämlich für jede normale geistige Entwicklung notwendig zu
durchlaufende Stadien in vorbildlicher Weise zum Ausdruck
bringen. Aber solche typische Darstellung ist im allgemeinen
Sache der Poesie. In solchem Sinne wird man den besten
Märchen, der schlichten unsatirischen Tierfabel, einer Auswahl
alttestamentlicher, homerischer Erzählungen, mit wenigem Andern,
einen typischen Wert gewiss zuerkennen. Es brauchte keine
Kulturstufentheorie, um zu verstehen, dass darin kindliche,
daher dem Kindesverstand eingängliche Stadien geistiger Ent-
wicklung typisch ausgeprägt sind. Aber eben indem man sie
als Typen betrachtet, hebt man sie schon aus geschicht-
lichem Zusammenhang heraus. Die pädagogische Wir-
kung z. B. des Märchens ist davon gänzlich unabhängig, ob
es vor tausend oder vor manchen tausend Jahren entstanden
oder vielleicht eine geglückte Nachbildung jüngsten Datums
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/315>, abgerufen am 26.11.2024.
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