Was aber ist nun das positiv Neue und Eigene dieser notwendig gesetzmässigen Gestaltungsweise, und was der Grund der ihr einwohnenden neuen Art Wahrheit?
Der Name des Aesthetischen scheint hinzuweisen aufs Gefühl als das eigentümliche Organ für diese neue Art von Erkenntnis. Wie die Natur das Objekt des blossen Verstandes, die Sittenwelt das Objekt des Willens -- zwar auch einer eigenen, aber im Willen selbst eingeschlossenen, nicht von aussen hinzukommenden, einer von Haus aus "praktischen" Erkenntnis ist, so könnte die ästhetische Welt die eigene Welt des Gefühls, wiewohl dann auch einer eigenen, eben fühlenden, im ästhetischen Gefühl eingeschlossenen Erkenntnis sein.
Was hieran richtig ist, wird sich sogleich herausstellen; irrig aber ist sie, wenn unter Gefühl, nach dem herrschenden Sprachgebrauch heutiger Psychologie, Lust und Unlust ver- standen wird. Denn weder Lust und Unlust schlechtweg, das blosse sich wohl oder nicht wohl finden, noch selbst die der Erkenntnis sich nähernde Bestimmtheit des Lust- und Unlust- gefühls, eine erhöhte Sensibilität des Organismus etwa, die uns von den feinsten Regungen unsres organischen Lebens (wenn auch oft genug trügende) Kunde giebt, ist etwa an sich schon etwas Aesthetisches. Zwar scheint es, dass die Lust- und Unlusterregung zur Materie der ästhetischen Gestaltung, und zwar notwendig zu allem, was irgend ihr als Materie dienen mag, gehört, denn ohne irgend einen Grad der Freude, des Wohlgefallens ist ein ästhetisches Bewusstsein ja wohl nicht denkbar. Allein darum fragt es sich nicht weniger nach dem formenden Gesetz; und das ist eigentlich erst die Frage danach, was das Aesthetische selbst sei. Es ist viel- leicht das in bestimmter Weise gestaltete Gefühl, aber keines- falls das Gefühl schlechtweg. Man könnte versuchen zu erklären, es sei das rein seiner eigenen Art gemäss gestaltete Gefühl. Allein wie soll etwas so wesentlich Gestaltloses und dabei Einförmiges wie das blosse sich wohl und nicht wohl fühlen überhaupt eine eigene Art gesetzmässiger Gestaltung aufbringen? Wie soll ein bloss subjektives Sichfühlen überhaupt von sich
Was aber ist nun das positiv Neue und Eigene dieser notwendig gesetzmässigen Gestaltungsweise, und was der Grund der ihr einwohnenden neuen Art Wahrheit?
Der Name des Aesthetischen scheint hinzuweisen aufs Gefühl als das eigentümliche Organ für diese neue Art von Erkenntnis. Wie die Natur das Objekt des blossen Verstandes, die Sittenwelt das Objekt des Willens — zwar auch einer eigenen, aber im Willen selbst eingeschlossenen, nicht von aussen hinzukommenden, einer von Haus aus „praktischen“ Erkenntnis ist, so könnte die ästhetische Welt die eigene Welt des Gefühls, wiewohl dann auch einer eigenen, eben fühlenden, im ästhetischen Gefühl eingeschlossenen Erkenntnis sein.
Was hieran richtig ist, wird sich sogleich herausstellen; irrig aber ist sie, wenn unter Gefühl, nach dem herrschenden Sprachgebrauch heutiger Psychologie, Lust und Unlust ver- standen wird. Denn weder Lust und Unlust schlechtweg, das blosse sich wohl oder nicht wohl finden, noch selbst die der Erkenntnis sich nähernde Bestimmtheit des Lust- und Unlust- gefühls, eine erhöhte Sensibilität des Organismus etwa, die uns von den feinsten Regungen unsres organischen Lebens (wenn auch oft genug trügende) Kunde giebt, ist etwa an sich schon etwas Aesthetisches. Zwar scheint es, dass die Lust- und Unlusterregung zur Materie der ästhetischen Gestaltung, und zwar notwendig zu allem, was irgend ihr als Materie dienen mag, gehört, denn ohne irgend einen Grad der Freude, des Wohlgefallens ist ein ästhetisches Bewusstsein ja wohl nicht denkbar. Allein darum fragt es sich nicht weniger nach dem formenden Gesetz; und das ist eigentlich erst die Frage danach, was das Aesthetische selbst sei. Es ist viel- leicht das in bestimmter Weise gestaltete Gefühl, aber keines- falls das Gefühl schlechtweg. Man könnte versuchen zu erklären, es sei das rein seiner eigenen Art gemäss gestaltete Gefühl. Allein wie soll etwas so wesentlich Gestaltloses und dabei Einförmiges wie das blosse sich wohl und nicht wohl fühlen überhaupt eine eigene Art gesetzmässiger Gestaltung aufbringen? Wie soll ein bloss subjektives Sichfühlen überhaupt von sich
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Was aber ist nun das positiv Neue und Eigene dieser
notwendig gesetzmässigen Gestaltungsweise, und was der Grund
der ihr einwohnenden neuen Art Wahrheit?
Der Name des Aesthetischen scheint hinzuweisen aufs
Gefühl als das eigentümliche Organ für diese neue Art von
Erkenntnis. Wie die Natur das Objekt des blossen Verstandes,
die Sittenwelt das Objekt des Willens — zwar auch einer
eigenen, aber im Willen selbst eingeschlossenen, nicht von
aussen hinzukommenden, einer von Haus aus „praktischen“
Erkenntnis ist, so könnte die ästhetische Welt die eigene
Welt des Gefühls, wiewohl dann auch einer eigenen, eben
fühlenden, im ästhetischen Gefühl eingeschlossenen Erkenntnis
sein.
Was hieran richtig ist, wird sich sogleich herausstellen;
irrig aber ist sie, wenn unter Gefühl, nach dem herrschenden
Sprachgebrauch heutiger Psychologie, Lust und Unlust ver-
standen wird. Denn weder Lust und Unlust schlechtweg, das
blosse sich wohl oder nicht wohl finden, noch selbst die der
Erkenntnis sich nähernde Bestimmtheit des Lust- und Unlust-
gefühls, eine erhöhte Sensibilität des Organismus etwa, die
uns von den feinsten Regungen unsres organischen Lebens
(wenn auch oft genug trügende) Kunde giebt, ist etwa an sich
schon etwas Aesthetisches. Zwar scheint es, dass die Lust-
und Unlusterregung zur Materie der ästhetischen Gestaltung,
und zwar notwendig zu allem, was irgend ihr als Materie
dienen mag, gehört, denn ohne irgend einen Grad der Freude,
des Wohlgefallens ist ein ästhetisches Bewusstsein ja wohl
nicht denkbar. Allein darum fragt es sich nicht weniger nach
dem formenden Gesetz; und das ist eigentlich erst die
Frage danach, was das Aesthetische selbst sei. Es ist viel-
leicht das in bestimmter Weise gestaltete Gefühl, aber keines-
falls das Gefühl schlechtweg. Man könnte versuchen zu erklären,
es sei das rein seiner eigenen Art gemäss gestaltete Gefühl.
Allein wie soll etwas so wesentlich Gestaltloses und dabei
Einförmiges wie das blosse sich wohl und nicht wohl fühlen
überhaupt eine eigene Art gesetzmässiger Gestaltung aufbringen?
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/329>, abgerufen am 27.11.2024.
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