ästhetischen zur theoretischen und ethischen Gestaltungsweise klar zu bestimmen. Dem ästhetischen Objekt ist die Form, d. i. die Einheit der Gestaltung, so wesentlich wie dem Naturobjekt oder dem Objekt der Sitte. Aber es überbietet gewissermaassen die gesetzlichen Ansprüche beider, indem es sie, die an sich einander zu widerstreben, und in diesem Wider- streit ewig unerfüllbar zu sein scheinen, vereint zu erfüllen -- vielleicht nicht behauptet, aber, kraft eines ihm ganz eigentümlichen Rechtes -- fingiert.
Das ästhetische Objekt unterwirft sich nicht den theore- tischen Erfordernissen des Naturwirklichen. Es bestände nicht die Probe dieser Erfordernisse, und es weigert sich über- haupt dieser Probe. Man soll es auf Wirklichkeit (im Natur- sinn) gar nicht befragen dürfen -- und doch es so hin- nehmen, wie wenn es wirklich sei, und wäre es in Nirgendheim. Auch befolgt es, wie mit List, die Gesetze der Wirklichkeit gerade so weit als es nötig ist, um diesen Schein behaupten zu können, oder als ein ästhetisches Gemüt vorausgesetzt werden darf, treuherzig genug, diesem vorge- spiegelten Scheine zu vertrauen. Es unterwirft sich ebenso wenig in Wahrheit den strengen Forderungen des an sich Seinsollenden. Es bestände ebenso wenig die Probe der sitt- lichen wie die der theoretisch-wissenschaftlichen Kritik, ja es verbittet sich überhaupt die Anlegung des sittlichen Maass- stabes; und verlangt dabei doch so hingenommen zu werden, als ob es an sich sein sollte, wie es ist, wäre, wie es sein soll. Und wieder, um diesen Schein zu behaupten, befolgt es die Gesetze des Seinsollenden insoweit, als es zur Möglichkeit dieses Scheines erforderlich ist; immer mit der Freiheit sie zu verlassen, wo der eigene, von dem des Sittlichen verschiedene Zweck der ästhetischen Gestaltung es erheischt.
Bei dem allen ist es ein ehrlicher Betrug, den wir uns so vormachen lassen oder vielmehr uns selber mehr oder weniger bewusst vormachen. Wir kommen gar nicht in Ge- fahr, das ästhetische Objekt mit dem Naturobjekt oder aber mit dem sittlichen im Ernst zu verwechseln. "Illusion" wäre daher kein zutreffender Name für den Zustand ästhetischer
ästhetischen zur theoretischen und ethischen Gestaltungsweise klar zu bestimmen. Dem ästhetischen Objekt ist die Form, d. i. die Einheit der Gestaltung, so wesentlich wie dem Naturobjekt oder dem Objekt der Sitte. Aber es überbietet gewissermaassen die gesetzlichen Ansprüche beider, indem es sie, die an sich einander zu widerstreben, und in diesem Wider- streit ewig unerfüllbar zu sein scheinen, vereint zu erfüllen — vielleicht nicht behauptet, aber, kraft eines ihm ganz eigentümlichen Rechtes — fingiert.
Das ästhetische Objekt unterwirft sich nicht den theore- tischen Erfordernissen des Naturwirklichen. Es bestände nicht die Probe dieser Erfordernisse, und es weigert sich über- haupt dieser Probe. Man soll es auf Wirklichkeit (im Natur- sinn) gar nicht befragen dürfen — und doch es so hin- nehmen, wie wenn es wirklich sei, und wäre es in Nirgendheim. Auch befolgt es, wie mit List, die Gesetze der Wirklichkeit gerade so weit als es nötig ist, um diesen Schein behaupten zu können, oder als ein ästhetisches Gemüt vorausgesetzt werden darf, treuherzig genug, diesem vorge- spiegelten Scheine zu vertrauen. Es unterwirft sich ebenso wenig in Wahrheit den strengen Forderungen des an sich Seinsollenden. Es bestände ebenso wenig die Probe der sitt- lichen wie die der theoretisch-wissenschaftlichen Kritik, ja es verbittet sich überhaupt die Anlegung des sittlichen Maass- stabes; und verlangt dabei doch so hingenommen zu werden, als ob es an sich sein sollte, wie es ist, wäre, wie es sein soll. Und wieder, um diesen Schein zu behaupten, befolgt es die Gesetze des Seinsollenden insoweit, als es zur Möglichkeit dieses Scheines erforderlich ist; immer mit der Freiheit sie zu verlassen, wo der eigene, von dem des Sittlichen verschiedene Zweck der ästhetischen Gestaltung es erheischt.
Bei dem allen ist es ein ehrlicher Betrug, den wir uns so vormachen lassen oder vielmehr uns selber mehr oder weniger bewusst vormachen. Wir kommen gar nicht in Ge- fahr, das ästhetische Objekt mit dem Naturobjekt oder aber mit dem sittlichen im Ernst zu verwechseln. „Illusion“ wäre daher kein zutreffender Name für den Zustand ästhetischer
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ästhetischen zur theoretischen und ethischen Gestaltungsweise
klar zu bestimmen. Dem ästhetischen Objekt ist die Form,
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Naturobjekt oder dem Objekt der Sitte. Aber es überbietet
gewissermaassen die gesetzlichen Ansprüche beider, indem es
sie, die an sich einander zu widerstreben, und in diesem Wider-
streit ewig unerfüllbar zu sein scheinen, vereint zu erfüllen
— vielleicht nicht behauptet, aber, kraft eines ihm ganz
eigentümlichen Rechtes — fingiert.
Das ästhetische Objekt unterwirft sich nicht den theore-
tischen Erfordernissen des Naturwirklichen. Es bestände
nicht die Probe dieser Erfordernisse, und es weigert sich über-
haupt dieser Probe. Man soll es auf Wirklichkeit (im Natur-
sinn) gar nicht befragen dürfen — und doch es so hin-
nehmen, wie wenn es wirklich sei, und wäre es in
Nirgendheim. Auch befolgt es, wie mit List, die Gesetze
der Wirklichkeit gerade so weit als es nötig ist, um diesen
Schein behaupten zu können, oder als ein ästhetisches Gemüt
vorausgesetzt werden darf, treuherzig genug, diesem vorge-
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wenig in Wahrheit den strengen Forderungen des an sich
Seinsollenden. Es bestände ebenso wenig die Probe der sitt-
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verbittet sich überhaupt die Anlegung des sittlichen Maass-
stabes; und verlangt dabei doch so hingenommen zu werden,
als ob es an sich sein sollte, wie es ist, wäre, wie es sein
soll. Und wieder, um diesen Schein zu behaupten, befolgt es
die Gesetze des Seinsollenden insoweit, als es zur Möglichkeit
dieses Scheines erforderlich ist; immer mit der Freiheit sie zu
verlassen, wo der eigene, von dem des Sittlichen verschiedene
Zweck der ästhetischen Gestaltung es erheischt.
Bei dem allen ist es ein ehrlicher Betrug, den wir
uns so vormachen lassen oder vielmehr uns selber mehr oder
weniger bewusst vormachen. Wir kommen gar nicht in Ge-
fahr, das ästhetische Objekt mit dem Naturobjekt oder aber
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/331>, abgerufen am 27.11.2024.
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