§ 34. Anteil der Religion an der Willenserziehung.
Wie allgemein die Harmonie der menschlichen Kräfte da- durch bedingt ist, dass jede in ihrer unvermischten Eigenart zur Geltung kommt, so hat auch die Hülfe, welche die Reli- gion der Sittlichkeit leistet, zur Voraussetzung, dass die Grenzen zwischen beiden sich nicht verwischen. Dauernd wird sich Religion nicht zu einer blossen Krücke der Sittlichkeit, einer mehr neben so vielen andern, hergeben; wie umgekehrt eine gereinigte Sittenlehre sich weigert anzuerkennen, dass sie dieser Krücke an sich bedürfte.
Einen neuen Inhalt hat Religion der Sittlichkeit in der That nicht anzubieten, wie wir uns überzeugten. Wohl aber kann sie durch den Einfluss, den sie auf das Gefühlsleben überhaupt gewinnt, von seiten des letzteren der bereits fest in sich gegründeten, ihres Inhalts gewissen sittlichen Ueberzeu- gung neue Kräfte zuführen, dieser Ueberzeugung auch nach- zuleben. Aber gerade nicht die Hochflut des Enthusiasmus vermag dies, der so oft ein Niedergang oder bleierne Wind- stille folgt; sondern allein die stetige Wärme eines durch rich- tige Einsicht und reine Entschliessung geläuterten, am "auf- richtigen Scheine" der Kunst oft erquickten und erbauten Ge- fühls; insbesondere des an der Gemeinschaft genährten: das "mit vereinten Kräften Wirken und Schaffen", das besonders giebt dem Gefühl den Halt, ohne den es schwer sein möchte, "das Leben auszuhalten". Dass aber der Individualitäts- charakter des Gefühls an sich der Gemeinschaft nicht wider- strebt, dafür ist gerade die Religion beweisend, die sich allzeit gemeinschaftbildend bewiesen hat. Selbst die Idee einer Ge- meinschaft des ganzen Menschengeschlechts hat sie zuerst uns errungen. Desgleichen hat sie den Begriff einer gemeinsamen Geschichte der Menschheit zuerst aufgestellt. Sie konnte es, weil in ihr das Erlebnis der Idee verborgen lag, das erst eine Menschheit geschaffen hat. Das ist es, worin die reli- giöse Geschichte alle Geschichten überragt und eine schlecht-
§ 34. Anteil der Religion an der Willenserziehung.
Wie allgemein die Harmonie der menschlichen Kräfte da- durch bedingt ist, dass jede in ihrer unvermischten Eigenart zur Geltung kommt, so hat auch die Hülfe, welche die Reli- gion der Sittlichkeit leistet, zur Voraussetzung, dass die Grenzen zwischen beiden sich nicht verwischen. Dauernd wird sich Religion nicht zu einer blossen Krücke der Sittlichkeit, einer mehr neben so vielen andern, hergeben; wie umgekehrt eine gereinigte Sittenlehre sich weigert anzuerkennen, dass sie dieser Krücke an sich bedürfte.
Einen neuen Inhalt hat Religion der Sittlichkeit in der That nicht anzubieten, wie wir uns überzeugten. Wohl aber kann sie durch den Einfluss, den sie auf das Gefühlsleben überhaupt gewinnt, von seiten des letzteren der bereits fest in sich gegründeten, ihres Inhalts gewissen sittlichen Ueberzeu- gung neue Kräfte zuführen, dieser Ueberzeugung auch nach- zuleben. Aber gerade nicht die Hochflut des Enthusiasmus vermag dies, der so oft ein Niedergang oder bleierne Wind- stille folgt; sondern allein die stetige Wärme eines durch rich- tige Einsicht und reine Entschliessung geläuterten, am „auf- richtigen Scheine“ der Kunst oft erquickten und erbauten Ge- fühls; insbesondere des an der Gemeinschaft genährten: das „mit vereinten Kräften Wirken und Schaffen“, das besonders giebt dem Gefühl den Halt, ohne den es schwer sein möchte, „das Leben auszuhalten“. Dass aber der Individualitäts- charakter des Gefühls an sich der Gemeinschaft nicht wider- strebt, dafür ist gerade die Religion beweisend, die sich allzeit gemeinschaftbildend bewiesen hat. Selbst die Idee einer Ge- meinschaft des ganzen Menschengeschlechts hat sie zuerst uns errungen. Desgleichen hat sie den Begriff einer gemeinsamen Geschichte der Menschheit zuerst aufgestellt. Sie konnte es, weil in ihr das Erlebnis der Idee verborgen lag, das erst eine Menschheit geschaffen hat. Das ist es, worin die reli- giöse Geschichte alle Geschichten überragt und eine schlecht-
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§ 34.
Anteil der Religion an der Willenserziehung.
Wie allgemein die Harmonie der menschlichen Kräfte da-
durch bedingt ist, dass jede in ihrer unvermischten Eigenart
zur Geltung kommt, so hat auch die Hülfe, welche die Reli-
gion der Sittlichkeit leistet, zur Voraussetzung, dass die Grenzen
zwischen beiden sich nicht verwischen. Dauernd wird sich
Religion nicht zu einer blossen Krücke der Sittlichkeit, einer
mehr neben so vielen andern, hergeben; wie umgekehrt eine
gereinigte Sittenlehre sich weigert anzuerkennen, dass sie dieser
Krücke an sich bedürfte.
Einen neuen Inhalt hat Religion der Sittlichkeit in der
That nicht anzubieten, wie wir uns überzeugten. Wohl aber
kann sie durch den Einfluss, den sie auf das Gefühlsleben
überhaupt gewinnt, von seiten des letzteren der bereits fest in
sich gegründeten, ihres Inhalts gewissen sittlichen Ueberzeu-
gung neue Kräfte zuführen, dieser Ueberzeugung auch nach-
zuleben. Aber gerade nicht die Hochflut des Enthusiasmus
vermag dies, der so oft ein Niedergang oder bleierne Wind-
stille folgt; sondern allein die stetige Wärme eines durch rich-
tige Einsicht und reine Entschliessung geläuterten, am „auf-
richtigen Scheine“ der Kunst oft erquickten und erbauten Ge-
fühls; insbesondere des an der Gemeinschaft genährten: das
„mit vereinten Kräften Wirken und Schaffen“, das besonders
giebt dem Gefühl den Halt, ohne den es schwer sein möchte,
„das Leben auszuhalten“. Dass aber der Individualitäts-
charakter des Gefühls an sich der Gemeinschaft nicht wider-
strebt, dafür ist gerade die Religion beweisend, die sich allzeit
gemeinschaftbildend bewiesen hat. Selbst die Idee einer Ge-
meinschaft des ganzen Menschengeschlechts hat sie zuerst uns
errungen. Desgleichen hat sie den Begriff einer gemeinsamen
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/358>, abgerufen am 30.11.2024.
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