sind. Was soll denn durch die Thatsache der Erfahrung ge- geben sein? Doch eben das, was als empirische Erkenntnis ausgesprochen wird, der Inhalt irgend eines Satzes der Wissen- schaft, oder auch der gemeinen Erkenntnis, z. B.: "Dies hier ist rot." Dass nun, erstlich, die formale Verknüpfungsweise gedanklicher Elemente, welche den Satz ausmacht, das, was den Sinn von Subjekt, Prädikat, Kopula begründet, nichts in den Wahrnehmungen Gegebenes ist, gesteht am Ende jeder zu; aber nur um desto entschiedener darauf zu bestehen, dass das Material dieser Verknüpfungen, die letzten Elemente wenigstens, die wir, um sie unserm Denken gleichsam mundgerecht zu machen, in solcher Art verknüpfen, durch Wahrnehmung ge- geben sein müssten. Allein die angebbaren Elemente von Be- griffsverbindungen sind notwendig Begriffselemente; Begriffe aber, wie "dies" und "rot", sind nicht gegeben, sondern durch- weg, bis zu ihren letzten Bestandteilen, eigene Erzeugnisse des Denkens. So die Zahl, so die Grösse, durch die auch Zeit- und Raumbestimmungen erst möglich sind; nicht minder die Qualität; vollends Relationsbestimmungen wie Ding, Eigen- schaft, Ursache, Wirkung; Modalitätsbestimmungen wie Mög- lichkeit, Thatsächlichkeit, gesetzliche Notwendigkeit; mit einem Wort die kategorialen Grundbestimmungen, unter die alles erkenntnisgemäss Ausgesagte sich fügen muss, sind, so als begriffliche Bestimmungen, nicht durch Wahrnehmung gegeben; hingegen ist umgekehrt alles, was als durch Wahr- nehmung gegeben nur gedacht werden mag, allein unter diesen und den daraus abzuleitenden Bestimmungen mit Sinn aussag- bar. Anders lässt sich auf verständliche Weise gar nicht an- geben, was, sei es durch Wahrnehmung oder wodurch sonst, gegeben sei.
Hieraus folgt nun schon so viel: dass Wahrnehmung allen- falls nur Antwort giebt auf die Fragen, welche die Erkenntnis zuvor gestellt und in den ihr eigenen Begriffen gleichsam vor- aus formuliert hat. Sie scheint erst dem, was die für sich sprachlose Wahrnehmung uns zu sagen hätte, aber nicht sagen kann, den artikulierten Ausdruck, nämlich den Begriff, zu leihen. Was vor der Erkenntnis, vor dem Begriff durch Wahr-
sind. Was soll denn durch die Thatsache der Erfahrung ge- geben sein? Doch eben das, was als empirische Erkenntnis ausgesprochen wird, der Inhalt irgend eines Satzes der Wissen- schaft, oder auch der gemeinen Erkenntnis, z. B.: „Dies hier ist rot.“ Dass nun, erstlich, die formale Verknüpfungsweise gedanklicher Elemente, welche den Satz ausmacht, das, was den Sinn von Subjekt, Prädikat, Kopula begründet, nichts in den Wahrnehmungen Gegebenes ist, gesteht am Ende jeder zu; aber nur um desto entschiedener darauf zu bestehen, dass das Material dieser Verknüpfungen, die letzten Elemente wenigstens, die wir, um sie unserm Denken gleichsam mundgerecht zu machen, in solcher Art verknüpfen, durch Wahrnehmung ge- geben sein müssten. Allein die angebbaren Elemente von Be- griffsverbindungen sind notwendig Begriffselemente; Begriffe aber, wie „dies“ und „rot“, sind nicht gegeben, sondern durch- weg, bis zu ihren letzten Bestandteilen, eigene Erzeugnisse des Denkens. So die Zahl, so die Grösse, durch die auch Zeit- und Raumbestimmungen erst möglich sind; nicht minder die Qualität; vollends Relationsbestimmungen wie Ding, Eigen- schaft, Ursache, Wirkung; Modalitätsbestimmungen wie Mög- lichkeit, Thatsächlichkeit, gesetzliche Notwendigkeit; mit einem Wort die kategorialen Grundbestimmungen, unter die alles erkenntnisgemäss Ausgesagte sich fügen muss, sind, so als begriffliche Bestimmungen, nicht durch Wahrnehmung gegeben; hingegen ist umgekehrt alles, was als durch Wahr- nehmung gegeben nur gedacht werden mag, allein unter diesen und den daraus abzuleitenden Bestimmungen mit Sinn aussag- bar. Anders lässt sich auf verständliche Weise gar nicht an- geben, was, sei es durch Wahrnehmung oder wodurch sonst, gegeben sei.
Hieraus folgt nun schon so viel: dass Wahrnehmung allen- falls nur Antwort giebt auf die Fragen, welche die Erkenntnis zuvor gestellt und in den ihr eigenen Begriffen gleichsam vor- aus formuliert hat. Sie scheint erst dem, was die für sich sprachlose Wahrnehmung uns zu sagen hätte, aber nicht sagen kann, den artikulierten Ausdruck, nämlich den Begriff, zu leihen. Was vor der Erkenntnis, vor dem Begriff durch Wahr-
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sind. Was soll denn durch die Thatsache der Erfahrung ge-
geben sein? Doch eben das, was als empirische Erkenntnis
ausgesprochen wird, der Inhalt irgend eines Satzes der Wissen-
schaft, oder auch der gemeinen Erkenntnis, z. B.: „Dies hier
ist rot.“ Dass nun, erstlich, die formale Verknüpfungsweise
gedanklicher Elemente, welche den Satz ausmacht, das, was den
Sinn von Subjekt, Prädikat, Kopula begründet, nichts in den
Wahrnehmungen Gegebenes ist, gesteht am Ende jeder zu;
aber nur um desto entschiedener darauf zu bestehen, dass das
Material dieser Verknüpfungen, die letzten Elemente wenigstens,
die wir, um sie unserm Denken gleichsam mundgerecht zu
machen, in solcher Art verknüpfen, durch Wahrnehmung ge-
geben sein müssten. Allein die angebbaren Elemente von Be-
griffsverbindungen sind notwendig Begriffselemente; Begriffe
aber, wie „dies“ und „rot“, sind nicht gegeben, sondern durch-
weg, bis zu ihren letzten Bestandteilen, eigene Erzeugnisse
des Denkens. So die Zahl, so die Grösse, durch die auch
Zeit- und Raumbestimmungen erst möglich sind; nicht minder
die Qualität; vollends Relationsbestimmungen wie Ding, Eigen-
schaft, Ursache, Wirkung; Modalitätsbestimmungen wie Mög-
lichkeit, Thatsächlichkeit, gesetzliche Notwendigkeit; mit einem
Wort die kategorialen Grundbestimmungen, unter die
alles erkenntnisgemäss Ausgesagte sich fügen muss, sind, so
als begriffliche Bestimmungen, nicht durch Wahrnehmung
gegeben; hingegen ist umgekehrt alles, was als durch Wahr-
nehmung gegeben nur gedacht werden mag, allein unter diesen
und den daraus abzuleitenden Bestimmungen mit Sinn aussag-
bar. Anders lässt sich auf verständliche Weise gar nicht an-
geben, was, sei es durch Wahrnehmung oder wodurch sonst,
gegeben sei.
Hieraus folgt nun schon so viel: dass Wahrnehmung allen-
falls nur Antwort giebt auf die Fragen, welche die Erkenntnis
zuvor gestellt und in den ihr eigenen Begriffen gleichsam vor-
aus formuliert hat. Sie scheint erst dem, was die für sich
sprachlose Wahrnehmung uns zu sagen hätte, aber nicht sagen
kann, den artikulierten Ausdruck, nämlich den Begriff, zu
leihen. Was vor der Erkenntnis, vor dem Begriff durch Wahr-
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/42>, abgerufen am 03.12.2024.
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