Fundament gesichert, sind die Grundbegriffe, Grundsätze und Methoden, auf die sie sich stützt, klar definiert und zulänglich deduziert, so ist sie es zufrieden, zu wahreren und wahreren Ansichten des Gegenstands, ohne Abschluss in einer absolut wahren, aber auch ohne hemmende Schranke, fortzuschreiten; dieser Fortschritt eben, das ist die Erfahrung.
Indessen wir haben die Idee des Unbedingten, und sie ist im letzten Grunde ursprünglicher als alle Erfahrung. Er- fahrung ist selbst nur eine Weise des Bewusstseins; sie bleibt daher immer jenem letzten und höchsten Ausblick des Be- wusstseins, aufs Unbedingte, untergeordnet. Diese Erwägung führt auf eine ganz andere Art der Erkenntnis als Er- fahrung, in der das Unbedingte nicht den bloss negativen Sinn der nie zu erreichenden äussersten Grenze des Erkennens hat, sondern vielmehr zum Centrum genommen wird, von welchem aus die Data der Erfahrung (denn andre haben wir nicht) wie in einem neuen Lichte erblickt werden und eine neue Bedeu- tung, eben durch diese positive Beziehung auf die Idee des Unbedingten, erhalten. Und dies nun, behaupten wir, sei der Ursprung des Sollens im praktischen Sinne.
Durch das Grundgesetz des Bewusstseins ist Einheit alles Mannigfaltigen oder Gesetzlichkeit bedingungs- los gefordert. In dieser Forderung aber ist sie auch schon bedingungslos gesetzt; nicht als seiend im empirischen Sinn, d. i. wirklich oder thatsächlich; oder etwa als möglich im Sinne einer empirischen Hypothese; aber als seinsollend. Das ist jedoch auch Setzung eines Gegenstandes, nämlich Gegenstandes der Forderung. Somit ist die Setzung des Unbedingten als Gegenstands unabweislich begründet im Ur- gesetze des Bewusstseins, ja sie ist der reinste Ausdruck dieses Urgesetzes, an Realität, d. i. Kraft der Geltung in der Erkennt- nis und für sie, jeder bloss empirischen Setzung sogar über- legen. Sie nimmt nicht teil an den Schranken, in die die Gegenständlichkeit der Erfahrung immer eingeschränkt bleibt. Zugleich aber findet diese neue Betrachtungsart, aus dem Zentrum des Unbedingten, vollkommen sichere Anwendung auf alles Empirische; nicht bloss die negative, der Einsicht,
Natorp, Sozialpädagogik. 3
Fundament gesichert, sind die Grundbegriffe, Grundsätze und Methoden, auf die sie sich stützt, klar definiert und zulänglich deduziert, so ist sie es zufrieden, zu wahreren und wahreren Ansichten des Gegenstands, ohne Abschluss in einer absolut wahren, aber auch ohne hemmende Schranke, fortzuschreiten; dieser Fortschritt eben, das ist die Erfahrung.
Indessen wir haben die Idee des Unbedingten, und sie ist im letzten Grunde ursprünglicher als alle Erfahrung. Er- fahrung ist selbst nur eine Weise des Bewusstseins; sie bleibt daher immer jenem letzten und höchsten Ausblick des Be- wusstseins, aufs Unbedingte, untergeordnet. Diese Erwägung führt auf eine ganz andere Art der Erkenntnis als Er- fahrung, in der das Unbedingte nicht den bloss negativen Sinn der nie zu erreichenden äussersten Grenze des Erkennens hat, sondern vielmehr zum Centrum genommen wird, von welchem aus die Data der Erfahrung (denn andre haben wir nicht) wie in einem neuen Lichte erblickt werden und eine neue Bedeu- tung, eben durch diese positive Beziehung auf die Idee des Unbedingten, erhalten. Und dies nun, behaupten wir, sei der Ursprung des Sollens im praktischen Sinne.
Durch das Grundgesetz des Bewusstseins ist Einheit alles Mannigfaltigen oder Gesetzlichkeit bedingungs- los gefordert. In dieser Forderung aber ist sie auch schon bedingungslos gesetzt; nicht als seiend im empirischen Sinn, d. i. wirklich oder thatsächlich; oder etwa als möglich im Sinne einer empirischen Hypothese; aber als seinsollend. Das ist jedoch auch Setzung eines Gegenstandes, nämlich Gegenstandes der Forderung. Somit ist die Setzung des Unbedingten als Gegenstands unabweislich begründet im Ur- gesetze des Bewusstseins, ja sie ist der reinste Ausdruck dieses Urgesetzes, an Realität, d. i. Kraft der Geltung in der Erkennt- nis und für sie, jeder bloss empirischen Setzung sogar über- legen. Sie nimmt nicht teil an den Schranken, in die die Gegenständlichkeit der Erfahrung immer eingeschränkt bleibt. Zugleich aber findet diese neue Betrachtungsart, aus dem Zentrum des Unbedingten, vollkommen sichere Anwendung auf alles Empirische; nicht bloss die negative, der Einsicht,
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Fundament gesichert, sind die Grundbegriffe, Grundsätze und
Methoden, auf die sie sich stützt, klar definiert und zulänglich
deduziert, so ist sie es zufrieden, zu wahreren und wahreren
Ansichten des Gegenstands, ohne Abschluss in einer absolut
wahren, aber auch ohne hemmende Schranke, fortzuschreiten;
dieser Fortschritt eben, das ist die Erfahrung.
Indessen wir haben die Idee des Unbedingten, und sie ist
im letzten Grunde ursprünglicher als alle Erfahrung. Er-
fahrung ist selbst nur eine Weise des Bewusstseins; sie bleibt
daher immer jenem letzten und höchsten Ausblick des Be-
wusstseins, aufs Unbedingte, untergeordnet. Diese Erwägung
führt auf eine ganz andere Art der Erkenntnis als Er-
fahrung, in der das Unbedingte nicht den bloss negativen Sinn
der nie zu erreichenden äussersten Grenze des Erkennens hat,
sondern vielmehr zum Centrum genommen wird, von welchem
aus die Data der Erfahrung (denn andre haben wir nicht) wie
in einem neuen Lichte erblickt werden und eine neue Bedeu-
tung, eben durch diese positive Beziehung auf die Idee
des Unbedingten, erhalten. Und dies nun, behaupten wir, sei
der Ursprung des Sollens im praktischen Sinne.
Durch das Grundgesetz des Bewusstseins ist Einheit
alles Mannigfaltigen oder Gesetzlichkeit bedingungs-
los gefordert. In dieser Forderung aber ist sie auch schon
bedingungslos gesetzt; nicht als seiend im empirischen
Sinn, d. i. wirklich oder thatsächlich; oder etwa als möglich
im Sinne einer empirischen Hypothese; aber als seinsollend.
Das ist jedoch auch Setzung eines Gegenstandes, nämlich
Gegenstandes der Forderung. Somit ist die Setzung des
Unbedingten als Gegenstands unabweislich begründet im Ur-
gesetze des Bewusstseins, ja sie ist der reinste Ausdruck dieses
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nis und für sie, jeder bloss empirischen Setzung sogar über-
legen. Sie nimmt nicht teil an den Schranken, in die die
Gegenständlichkeit der Erfahrung immer eingeschränkt bleibt.
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/49>, abgerufen am 21.11.2024.
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