was uns hier zunächst angeht, für eine klare Vorstellung des Verhältnisses der Verstandesbildung zur Willensbildung.
Dass die ganze Welt des Verstandes in strenger Einheit aus wenigen Grundelementen, welche die Elemente des Ver- stehens selbst sind, sich aufbauen müsse, diese Einsicht ist es, welche Pestalozzis Idee der Elementarbildung eine tiefe, über seine sicheren ersten Ahnungen unermesslich hinaus- reichende Bedeutung verleiht. Es ist ganz im Sinne der "kritischen" Philosophie, wenn Pestalozzi erklärt: "Jede Linie, jedes Maass, jedes Wort ist ein Resultat des Verstandes .... auch ist aller Unterricht in seinem Wesen nichts andres als dieses", nämlich "progressive Verdeutlichung unserer Begriffe"; "seine Grundsätze müssen deshalb von der un- wandelbaren Urform der menschlichen Geistesent- wicklung abstrahiert werden". *) Es ist die sichere Ahnung, dass rein erkennbar nur die reinen Elemente der Gesetzlichkeit sind, auf der der Prozess der Erkenntnis überhaupt beruht. Aus diesem ABC, nicht bloss die "Anschauung", sondern alle sichere Erkenntnis aufzubauen, muss in der That das Ziel allen Verstandesunterrichts sein. Thatsachenerkenntnis dagegen ist bloss empirisch, das heisst, sie ist nur jeweiliger verbesser- licher Ansatz, gültig je für eine gegebene Stufe der Erkenntnis, die in einer unbegrenzbaren Folge solcher Stufen besteht.
Das Verhältnis der Verstandesbildung zur Willensbildung aber wird klar bestimmbar auf Grund der, beiden gemeinsamen, letzten Beziehung auf die Idee.
Welches ist zunächst das Verhältnis der theoretischen oder Erfahrungserkenntnis zur Idee? Aus dem Dargelegten geht hervor, dass diese Erkenntnis eines Abschlusses im Un- bedingten ihrer Natur nach unfähig ist. Die Idee des Un- bedingten gilt zwar auch für den theoretischen Verstand; aber sie hat für ihn zunächst bloss die negative Bedeutung, ihn zu begrenzen durch die Einsicht des stets bedingten Charakters seiner Erkenntnisse. Auch bedarf die Erfahrung bloss ihrer selbst wegen keines positiven Abschlusses. Ist ihr logisches
*) Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, 6. Abschn. (Reclam S. 82.)
was uns hier zunächst angeht, für eine klare Vorstellung des Verhältnisses der Verstandesbildung zur Willensbildung.
Dass die ganze Welt des Verstandes in strenger Einheit aus wenigen Grundelementen, welche die Elemente des Ver- stehens selbst sind, sich aufbauen müsse, diese Einsicht ist es, welche Pestalozzis Idee der Elementarbildung eine tiefe, über seine sicheren ersten Ahnungen unermesslich hinaus- reichende Bedeutung verleiht. Es ist ganz im Sinne der „kritischen“ Philosophie, wenn Pestalozzi erklärt: „Jede Linie, jedes Maass, jedes Wort ist ein Resultat des Verstandes .... auch ist aller Unterricht in seinem Wesen nichts andres als dieses“, nämlich „progressive Verdeutlichung unserer Begriffe“; „seine Grundsätze müssen deshalb von der un- wandelbaren Urform der menschlichen Geistesent- wicklung abstrahiert werden“. *) Es ist die sichere Ahnung, dass rein erkennbar nur die reinen Elemente der Gesetzlichkeit sind, auf der der Prozess der Erkenntnis überhaupt beruht. Aus diesem ABC, nicht bloss die „Anschauung“, sondern alle sichere Erkenntnis aufzubauen, muss in der That das Ziel allen Verstandesunterrichts sein. Thatsachenerkenntnis dagegen ist bloss empirisch, das heisst, sie ist nur jeweiliger verbesser- licher Ansatz, gültig je für eine gegebene Stufe der Erkenntnis, die in einer unbegrenzbaren Folge solcher Stufen besteht.
Das Verhältnis der Verstandesbildung zur Willensbildung aber wird klar bestimmbar auf Grund der, beiden gemeinsamen, letzten Beziehung auf die Idee.
Welches ist zunächst das Verhältnis der theoretischen oder Erfahrungserkenntnis zur Idee? Aus dem Dargelegten geht hervor, dass diese Erkenntnis eines Abschlusses im Un- bedingten ihrer Natur nach unfähig ist. Die Idee des Un- bedingten gilt zwar auch für den theoretischen Verstand; aber sie hat für ihn zunächst bloss die negative Bedeutung, ihn zu begrenzen durch die Einsicht des stets bedingten Charakters seiner Erkenntnisse. Auch bedarf die Erfahrung bloss ihrer selbst wegen keines positiven Abschlusses. Ist ihr logisches
*) Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, 6. Abschn. (Reclam S. 82.)
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was uns hier zunächst angeht, für eine klare Vorstellung des
Verhältnisses der Verstandesbildung zur Willensbildung.
Dass die ganze Welt des Verstandes in strenger Einheit
aus wenigen Grundelementen, welche die Elemente des Ver-
stehens selbst sind, sich aufbauen müsse, diese Einsicht ist es,
welche Pestalozzis Idee der Elementarbildung eine
tiefe, über seine sicheren ersten Ahnungen unermesslich hinaus-
reichende Bedeutung verleiht. Es ist ganz im Sinne der
„kritischen“ Philosophie, wenn Pestalozzi erklärt: „Jede Linie,
jedes Maass, jedes Wort ist ein Resultat des Verstandes
.... auch ist aller Unterricht in seinem Wesen nichts andres
als dieses“, nämlich „progressive Verdeutlichung unserer
Begriffe“; „seine Grundsätze müssen deshalb von der un-
wandelbaren Urform der menschlichen Geistesent-
wicklung abstrahiert werden“. *) Es ist die sichere Ahnung,
dass rein erkennbar nur die reinen Elemente der Gesetzlichkeit
sind, auf der der Prozess der Erkenntnis überhaupt beruht.
Aus diesem ABC, nicht bloss die „Anschauung“, sondern alle
sichere Erkenntnis aufzubauen, muss in der That das Ziel
allen Verstandesunterrichts sein. Thatsachenerkenntnis dagegen
ist bloss empirisch, das heisst, sie ist nur jeweiliger verbesser-
licher Ansatz, gültig je für eine gegebene Stufe der Erkenntnis,
die in einer unbegrenzbaren Folge solcher Stufen besteht.
Das Verhältnis der Verstandesbildung zur Willensbildung
aber wird klar bestimmbar auf Grund der, beiden gemeinsamen,
letzten Beziehung auf die Idee.
Welches ist zunächst das Verhältnis der theoretischen oder
Erfahrungserkenntnis zur Idee? Aus dem Dargelegten geht
hervor, dass diese Erkenntnis eines Abschlusses im Un-
bedingten ihrer Natur nach unfähig ist. Die Idee des Un-
bedingten gilt zwar auch für den theoretischen Verstand; aber
sie hat für ihn zunächst bloss die negative Bedeutung, ihn
zu begrenzen durch die Einsicht des stets bedingten Charakters
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*) Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, 6. Abschn. (Reclam S. 82.)
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/48>, abgerufen am 21.11.2024.
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