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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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vergleichend, abwägend darüber stellen, mit Freiheit entscheiden,
annehmen oder verwerfen, mithin urteilen; dem Triebe uns
nicht mehr blind unterwerfen, sondern uns bewusst sind ihm
entgegenhandeln, ja ihn umlenken zu können; nicht mehr uns
von ihm die Richtung weisen zu lassen, sondern sie ihm zu
diktieren.

So wird klar, wie zwar der Trieb Voraussetzung des
Willens, Wille aber darum nicht lediglich Trieb ist. Soll
ich wählen, so fragt es sich nach der Norm, wonach ich mich
richte, nach der "Maxime" meines praktischen Urteils, nach
Wahrheit und Falschheit; dann tritt die praktische Besinnung
in ihr Recht, ist die Aufgabe gestellt für praktische Erkennt-
nis
; und eine unendliche Entwicklung steht offen.

Daher erschien nicht wenigen und nicht den schlechtesten
Philosophen geradezu als Kriterium des Wollens die leitende
Einsicht
. Völlig richtig, sofern nur nicht ausser acht ge-
lassen wird, dass es praktische Einsicht sein muss; dass es
nicht auf blossen Scharf- und Weitblick des Verstandes, son-
dern auf eine der Einsicht unmittelbar inwohnende Energie
ankommt, mit der sie, auch mächtig gegenwirkenden Tenden-
zen zum Trotz, die Aktivität in die Richtung zu lenken ver-
mag, für die das praktische Urteil entschied. Schon dieses
ist ja vom theoretischen scharf unterschieden. Ein Sollen er-
giebt sich niemals als einfache logische Folge aus dem er-
kannten Sein; das Sollen schliesst bereits die Tendenz in sich
und könnte ohne schon zu Grunde liegende Tendenz gar nicht
mit innerer Wahrheit ausgesagt, höchstens nachgesprochen
werden ohne wirkliche Ueberzeugung.

Aus welchem Quell nun diese aktive Energie ihre
Nahrung zieht, welche mit der praktischen Erkenntnis zu-
gleich die Thatkraft des Wollens erzeugt, das muss dem,
der von empirischen Voraussetzungen ausgeht, wohl als die
eigentlich entscheidende Frage der Willensbildung erscheinen.
Die gewöhnliche, seit Hume so beliebte Antwort aber: dass
nur die Macht anderer Triebe die Gewalt eines bestimmten,
augenblicklich herrschenden Triebes brechen könne, da doch
blosse, uninteressierte Vernunft keine solche Energie aufzu-

vergleichend, abwägend darüber stellen, mit Freiheit entscheiden,
annehmen oder verwerfen, mithin urteilen; dem Triebe uns
nicht mehr blind unterwerfen, sondern uns bewusst sind ihm
entgegenhandeln, ja ihn umlenken zu können; nicht mehr uns
von ihm die Richtung weisen zu lassen, sondern sie ihm zu
diktieren.

So wird klar, wie zwar der Trieb Voraussetzung des
Willens, Wille aber darum nicht lediglich Trieb ist. Soll
ich wählen, so fragt es sich nach der Norm, wonach ich mich
richte, nach der „Maxime“ meines praktischen Urteils, nach
Wahrheit und Falschheit; dann tritt die praktische Besinnung
in ihr Recht, ist die Aufgabe gestellt für praktische Erkennt-
nis
; und eine unendliche Entwicklung steht offen.

Daher erschien nicht wenigen und nicht den schlechtesten
Philosophen geradezu als Kriterium des Wollens die leitende
Einsicht
. Völlig richtig, sofern nur nicht ausser acht ge-
lassen wird, dass es praktische Einsicht sein muss; dass es
nicht auf blossen Scharf- und Weitblick des Verstandes, son-
dern auf eine der Einsicht unmittelbar inwohnende Energie
ankommt, mit der sie, auch mächtig gegenwirkenden Tenden-
zen zum Trotz, die Aktivität in die Richtung zu lenken ver-
mag, für die das praktische Urteil entschied. Schon dieses
ist ja vom theoretischen scharf unterschieden. Ein Sollen er-
giebt sich niemals als einfache logische Folge aus dem er-
kannten Sein; das Sollen schliesst bereits die Tendenz in sich
und könnte ohne schon zu Grunde liegende Tendenz gar nicht
mit innerer Wahrheit ausgesagt, höchstens nachgesprochen
werden ohne wirkliche Ueberzeugung.

Aus welchem Quell nun diese aktive Energie ihre
Nahrung zieht, welche mit der praktischen Erkenntnis zu-
gleich die Thatkraft des Wollens erzeugt, das muss dem,
der von empirischen Voraussetzungen ausgeht, wohl als die
eigentlich entscheidende Frage der Willensbildung erscheinen.
Die gewöhnliche, seit Hume so beliebte Antwort aber: dass
nur die Macht anderer Triebe die Gewalt eines bestimmten,
augenblicklich herrschenden Triebes brechen könne, da doch
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[58/0074] vergleichend, abwägend darüber stellen, mit Freiheit entscheiden, annehmen oder verwerfen, mithin urteilen; dem Triebe uns nicht mehr blind unterwerfen, sondern uns bewusst sind ihm entgegenhandeln, ja ihn umlenken zu können; nicht mehr uns von ihm die Richtung weisen zu lassen, sondern sie ihm zu diktieren. So wird klar, wie zwar der Trieb Voraussetzung des Willens, Wille aber darum nicht lediglich Trieb ist. Soll ich wählen, so fragt es sich nach der Norm, wonach ich mich richte, nach der „Maxime“ meines praktischen Urteils, nach Wahrheit und Falschheit; dann tritt die praktische Besinnung in ihr Recht, ist die Aufgabe gestellt für praktische Erkennt- nis; und eine unendliche Entwicklung steht offen. Daher erschien nicht wenigen und nicht den schlechtesten Philosophen geradezu als Kriterium des Wollens die leitende Einsicht. Völlig richtig, sofern nur nicht ausser acht ge- lassen wird, dass es praktische Einsicht sein muss; dass es nicht auf blossen Scharf- und Weitblick des Verstandes, son- dern auf eine der Einsicht unmittelbar inwohnende Energie ankommt, mit der sie, auch mächtig gegenwirkenden Tenden- zen zum Trotz, die Aktivität in die Richtung zu lenken ver- mag, für die das praktische Urteil entschied. Schon dieses ist ja vom theoretischen scharf unterschieden. Ein Sollen er- giebt sich niemals als einfache logische Folge aus dem er- kannten Sein; das Sollen schliesst bereits die Tendenz in sich und könnte ohne schon zu Grunde liegende Tendenz gar nicht mit innerer Wahrheit ausgesagt, höchstens nachgesprochen werden ohne wirkliche Ueberzeugung. Aus welchem Quell nun diese aktive Energie ihre Nahrung zieht, welche mit der praktischen Erkenntnis zu- gleich die Thatkraft des Wollens erzeugt, das muss dem, der von empirischen Voraussetzungen ausgeht, wohl als die eigentlich entscheidende Frage der Willensbildung erscheinen. Die gewöhnliche, seit Hume so beliebte Antwort aber: dass nur die Macht anderer Triebe die Gewalt eines bestimmten, augenblicklich herrschenden Triebes brechen könne, da doch blosse, uninteressierte Vernunft keine solche Energie aufzu-

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/74>, abgerufen am 21.11.2024.