Doch ist damit die Frage noch keineswegs aufgelöst, son- dern erst in bestimmterer Form gestellt. Vergeblich fordert man vom Schwächling, dass er "sich konzentriere" oder, wie unsere Sprache es gut bezeichnet, "sich zusammennehme". Genau das ist ja seine Schwäche, dass er das nicht kann. Vielmehr, wie diese Forderung offenbar die höchste, so werden auch die grössten Voraussetzungen dazu gehören; diese haben wir jetzt zu untersuchen. Es fragt sich also: gegeben Trieb und Wille, auf welchem Wege gestaltet sich daraus Vernunft- wille?
Zum sicheren Ausgangspunkt dient uns die bereits ge- wonnene Einsicht, dass die Gestaltung der Willenswelt unter Leitung des Vernunftgesetzes in genauer Verknüpfung stehen muss mit der Gestaltung der empirischen Objektwelt unter Leitung des Erfahrungsgesetzes. Auf der untersten Stufe der Entwicklung ist beides kaum von einander zu scheiden; weiterhin tritt eine gewisse Differenzierung zwar ein, aber die Wechselbeziehung dauert fort, und diese Beziehung ist, bis zu den höchsten Stufen hinauf, mehr als blosse Analogie.
Die drei Stufen: Trieb, Wille, Vernunftwille, entsprechen auf praktischem Gebiet genau drei Stufen der empirischen Vorstellung: erstens Vorstellung schlechtweg, die zwar ihren Gegenstand hat, aber noch nicht das Bewusstsein gegenständ- licher Geltung einschliesst; zweitens bewusst objektivierte Vor- stellung, doch ohne radikale Begründung in den Grundgesetzen des Erkennens; drittens prinzipiell und methodisch begründete, also wissenschaftliche Objektvorstellung, empirische Objekt- erkenntnis. Die fortschreitende Konzentration des Bewusst- seins, die zugleich Erweiterung des Horizonts bedeutet, regiert dort wie hier den Fortschritt. Wie sich Vorstellung durch Vorstellung entwickelt, die Vorstellungen auf dem sich stetig erweiternden Blickfeld des Bewusstseins einander begegnen, in Widerstreit geraten, Ausgleich suchen müssen, und sich so zu immer tieferer, umfassenderer Einheit durchbilden, so begeg- nen sich auf dem Felde des praktischen Bewusstseins Tendenz und Tendenz; mit steigender Höhe des Bewusstseins vertragen sich weniger und weniger die in der Richtung nicht überein-
Natorp, Sozialpädagogik. 5
Doch ist damit die Frage noch keineswegs aufgelöst, son- dern erst in bestimmterer Form gestellt. Vergeblich fordert man vom Schwächling, dass er „sich konzentriere“ oder, wie unsere Sprache es gut bezeichnet, „sich zusammennehme“. Genau das ist ja seine Schwäche, dass er das nicht kann. Vielmehr, wie diese Forderung offenbar die höchste, so werden auch die grössten Voraussetzungen dazu gehören; diese haben wir jetzt zu untersuchen. Es fragt sich also: gegeben Trieb und Wille, auf welchem Wege gestaltet sich daraus Vernunft- wille?
Zum sicheren Ausgangspunkt dient uns die bereits ge- wonnene Einsicht, dass die Gestaltung der Willenswelt unter Leitung des Vernunftgesetzes in genauer Verknüpfung stehen muss mit der Gestaltung der empirischen Objektwelt unter Leitung des Erfahrungsgesetzes. Auf der untersten Stufe der Entwicklung ist beides kaum von einander zu scheiden; weiterhin tritt eine gewisse Differenzierung zwar ein, aber die Wechselbeziehung dauert fort, und diese Beziehung ist, bis zu den höchsten Stufen hinauf, mehr als blosse Analogie.
Die drei Stufen: Trieb, Wille, Vernunftwille, entsprechen auf praktischem Gebiet genau drei Stufen der empirischen Vorstellung: erstens Vorstellung schlechtweg, die zwar ihren Gegenstand hat, aber noch nicht das Bewusstsein gegenständ- licher Geltung einschliesst; zweitens bewusst objektivierte Vor- stellung, doch ohne radikale Begründung in den Grundgesetzen des Erkennens; drittens prinzipiell und methodisch begründete, also wissenschaftliche Objektvorstellung, empirische Objekt- erkenntnis. Die fortschreitende Konzentration des Bewusst- seins, die zugleich Erweiterung des Horizonts bedeutet, regiert dort wie hier den Fortschritt. Wie sich Vorstellung durch Vorstellung entwickelt, die Vorstellungen auf dem sich stetig erweiternden Blickfeld des Bewusstseins einander begegnen, in Widerstreit geraten, Ausgleich suchen müssen, und sich so zu immer tieferer, umfassenderer Einheit durchbilden, so begeg- nen sich auf dem Felde des praktischen Bewusstseins Tendenz und Tendenz; mit steigender Höhe des Bewusstseins vertragen sich weniger und weniger die in der Richtung nicht überein-
Natorp, Sozialpädagogik. 5
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[65/0081]
Doch ist damit die Frage noch keineswegs aufgelöst, son-
dern erst in bestimmterer Form gestellt. Vergeblich fordert
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unsere Sprache es gut bezeichnet, „sich zusammennehme“.
Genau das ist ja seine Schwäche, dass er das nicht kann.
Vielmehr, wie diese Forderung offenbar die höchste, so werden
auch die grössten Voraussetzungen dazu gehören; diese haben
wir jetzt zu untersuchen. Es fragt sich also: gegeben Trieb
und Wille, auf welchem Wege gestaltet sich daraus Vernunft-
wille?
Zum sicheren Ausgangspunkt dient uns die bereits ge-
wonnene Einsicht, dass die Gestaltung der Willenswelt unter
Leitung des Vernunftgesetzes in genauer Verknüpfung stehen
muss mit der Gestaltung der empirischen Objektwelt unter
Leitung des Erfahrungsgesetzes. Auf der untersten Stufe
der Entwicklung ist beides kaum von einander zu scheiden;
weiterhin tritt eine gewisse Differenzierung zwar ein, aber die
Wechselbeziehung dauert fort, und diese Beziehung ist, bis zu
den höchsten Stufen hinauf, mehr als blosse Analogie.
Die drei Stufen: Trieb, Wille, Vernunftwille, entsprechen
auf praktischem Gebiet genau drei Stufen der empirischen
Vorstellung: erstens Vorstellung schlechtweg, die zwar ihren
Gegenstand hat, aber noch nicht das Bewusstsein gegenständ-
licher Geltung einschliesst; zweitens bewusst objektivierte Vor-
stellung, doch ohne radikale Begründung in den Grundgesetzen
des Erkennens; drittens prinzipiell und methodisch begründete,
also wissenschaftliche Objektvorstellung, empirische Objekt-
erkenntnis. Die fortschreitende Konzentration des Bewusst-
seins, die zugleich Erweiterung des Horizonts bedeutet, regiert
dort wie hier den Fortschritt. Wie sich Vorstellung durch
Vorstellung entwickelt, die Vorstellungen auf dem sich stetig
erweiternden Blickfeld des Bewusstseins einander begegnen, in
Widerstreit geraten, Ausgleich suchen müssen, und sich so zu
immer tieferer, umfassenderer Einheit durchbilden, so begeg-
nen sich auf dem Felde des praktischen Bewusstseins Tendenz
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/81>, abgerufen am 21.11.2024.
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