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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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keit erstrecken. Ja, gerade die selbstthätige Gestaltung
des Inhalts in Denken und Gesinnung, die uns im Andern ent-
gegentritt, ergreift unmittelbar das eigene Bewusstsein und
setzt die eigene Selbstthätigkeit in Bewegung. Wer je vom
Andern gelernt hat, wem je etwas klar wurde, indem er sehen
lernte mit demselben Blick, mit dem zuvor der Andre sah und
zu dem er ihn gleichsam hinaufzuheben wusste, dem muss dieser
Sinn der bildenden Gemeinschaft klar sein, und er muss
erkennen, wie alle Lehre, alle Erziehung, alle Bildung des In-
tellekts wie des Willens gänzlich hierauf beruht. Hier ist
nicht die Rede von einem Einpflanzen von aussen und andrer-
seits passiver Entgegennahme. Die intensivste Förderung durch
den Andern bedeutet vielmehr zugleich intensivste Selbstthätig-
keit und umgekehrt. Der Empfangende sogar wird durch die
Lebendigkeit seiner Empfängnis auch wieder zum Anregenden;
das Geheimnis, dass wir durch Lehren lernen, durch Erziehen
auch selber erzogen werden. Vielmehr wenn es nicht diese
Gemeinschaft von Bewusstsein und Bewusstsein gäbe, so bliebe
allein übrig, dass der Eine dem Andern den toten Stoff zu-
schöbe und es ihm überliesse, ob und wie er ihn verarbeitete.
Dann freilich würde das Lehren und Lernen notwendig zu
dem verächtlichen mechanischen Treiben, zu dem nur beider-
seitige Geistesträgheit es leider oft werden lässt.

Doch ist es noch nicht genug gesagt, dass das Lernen
geschieht in einem Wechselverhältnis peripherischer Aufnahme
und zentral vertiefender Verarbeitung eines dargereichten Stoffs.
Denn zuletzt giebt es keinen dargereichten Stoff; in Form
und Gesetz muss alles sich auflösen, was eigentlich ein Inhalt
des Bewusstseins sein soll. Es ist hier nur ein Unterschied
des Grades, von dem noch unfreien Verhalten zum Gegen-
stande, in welchem dessen Abhängigkeit vom Formgesetz des
Bewusstseins bloss nicht erkannt wird, bis zur Freiheit dieser
Erkenntnis und damit vollen geistigen Beherrschung des In-
halts. Der Bann der sinnlichen Thatsache, der sinnlichen Lust
und Unlust, des sinnlichen Begehrens besteht nur so lange,
als man an ihn glaubt; er weicht der Freiheit des Bewusst-
seins, das sich über ihn erhebt, indem es auf die Abhängigkeit

keit erstrecken. Ja, gerade die selbstthätige Gestaltung
des Inhalts in Denken und Gesinnung, die uns im Andern ent-
gegentritt, ergreift unmittelbar das eigene Bewusstsein und
setzt die eigene Selbstthätigkeit in Bewegung. Wer je vom
Andern gelernt hat, wem je etwas klar wurde, indem er sehen
lernte mit demselben Blick, mit dem zuvor der Andre sah und
zu dem er ihn gleichsam hinaufzuheben wusste, dem muss dieser
Sinn der bildenden Gemeinschaft klar sein, und er muss
erkennen, wie alle Lehre, alle Erziehung, alle Bildung des In-
tellekts wie des Willens gänzlich hierauf beruht. Hier ist
nicht die Rede von einem Einpflanzen von aussen und andrer-
seits passiver Entgegennahme. Die intensivste Förderung durch
den Andern bedeutet vielmehr zugleich intensivste Selbstthätig-
keit und umgekehrt. Der Empfangende sogar wird durch die
Lebendigkeit seiner Empfängnis auch wieder zum Anregenden;
das Geheimnis, dass wir durch Lehren lernen, durch Erziehen
auch selber erzogen werden. Vielmehr wenn es nicht diese
Gemeinschaft von Bewusstsein und Bewusstsein gäbe, so bliebe
allein übrig, dass der Eine dem Andern den toten Stoff zu-
schöbe und es ihm überliesse, ob und wie er ihn verarbeitete.
Dann freilich würde das Lehren und Lernen notwendig zu
dem verächtlichen mechanischen Treiben, zu dem nur beider-
seitige Geistesträgheit es leider oft werden lässt.

Doch ist es noch nicht genug gesagt, dass das Lernen
geschieht in einem Wechselverhältnis peripherischer Aufnahme
und zentral vertiefender Verarbeitung eines dargereichten Stoffs.
Denn zuletzt giebt es keinen dargereichten Stoff; in Form
und Gesetz muss alles sich auflösen, was eigentlich ein Inhalt
des Bewusstseins sein soll. Es ist hier nur ein Unterschied
des Grades, von dem noch unfreien Verhalten zum Gegen-
stande, in welchem dessen Abhängigkeit vom Formgesetz des
Bewusstseins bloss nicht erkannt wird, bis zur Freiheit dieser
Erkenntnis und damit vollen geistigen Beherrschung des In-
halts. Der Bann der sinnlichen Thatsache, der sinnlichen Lust
und Unlust, des sinnlichen Begehrens besteht nur so lange,
als man an ihn glaubt; er weicht der Freiheit des Bewusst-
seins, das sich über ihn erhebt, indem es auf die Abhängigkeit

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[73/0089] keit erstrecken. Ja, gerade die selbstthätige Gestaltung des Inhalts in Denken und Gesinnung, die uns im Andern ent- gegentritt, ergreift unmittelbar das eigene Bewusstsein und setzt die eigene Selbstthätigkeit in Bewegung. Wer je vom Andern gelernt hat, wem je etwas klar wurde, indem er sehen lernte mit demselben Blick, mit dem zuvor der Andre sah und zu dem er ihn gleichsam hinaufzuheben wusste, dem muss dieser Sinn der bildenden Gemeinschaft klar sein, und er muss erkennen, wie alle Lehre, alle Erziehung, alle Bildung des In- tellekts wie des Willens gänzlich hierauf beruht. Hier ist nicht die Rede von einem Einpflanzen von aussen und andrer- seits passiver Entgegennahme. Die intensivste Förderung durch den Andern bedeutet vielmehr zugleich intensivste Selbstthätig- keit und umgekehrt. Der Empfangende sogar wird durch die Lebendigkeit seiner Empfängnis auch wieder zum Anregenden; das Geheimnis, dass wir durch Lehren lernen, durch Erziehen auch selber erzogen werden. Vielmehr wenn es nicht diese Gemeinschaft von Bewusstsein und Bewusstsein gäbe, so bliebe allein übrig, dass der Eine dem Andern den toten Stoff zu- schöbe und es ihm überliesse, ob und wie er ihn verarbeitete. Dann freilich würde das Lehren und Lernen notwendig zu dem verächtlichen mechanischen Treiben, zu dem nur beider- seitige Geistesträgheit es leider oft werden lässt. Doch ist es noch nicht genug gesagt, dass das Lernen geschieht in einem Wechselverhältnis peripherischer Aufnahme und zentral vertiefender Verarbeitung eines dargereichten Stoffs. Denn zuletzt giebt es keinen dargereichten Stoff; in Form und Gesetz muss alles sich auflösen, was eigentlich ein Inhalt des Bewusstseins sein soll. Es ist hier nur ein Unterschied des Grades, von dem noch unfreien Verhalten zum Gegen- stande, in welchem dessen Abhängigkeit vom Formgesetz des Bewusstseins bloss nicht erkannt wird, bis zur Freiheit dieser Erkenntnis und damit vollen geistigen Beherrschung des In- halts. Der Bann der sinnlichen Thatsache, der sinnlichen Lust und Unlust, des sinnlichen Begehrens besteht nur so lange, als man an ihn glaubt; er weicht der Freiheit des Bewusst- seins, das sich über ihn erhebt, indem es auf die Abhängigkeit

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/89>, abgerufen am 21.11.2024.