des vermeintlich Gegebenen der Sinnlichkeit vom Gesetz des Geistes sich besinnt.
Und auf diesen ganzen Stufengang der Befreiung des Be- wusstseins erstreckt sich nun jener Einfluss der Gemeinschaft. Er erstreckt sich selbst bis auf die sinnliche Wahrnehmung. Selbst eine menschliche Wahrnehmung würde sich im Men- schen nicht entwickeln abseits menschlicher Gemeinschaft. Denn diese Wahrnehmung schliesst eine ganz bestimmte Weise der Auffassung ein, die nicht von der Natur schlechthin dar- geboten, sondern vom Menschen nach seinen eigentümlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten zustande gebracht und im Men- schengeschlecht nicht sowohl physisch vererbt, als vielmehr psychisch überliefert wird. Es wäre undenkbar, dass das Chaos der Eindrücke sich in eine geordnete Objektwelt umschüfe, wie es doch in jedem normalen Kinde in den ersten Lebensjahren vollbracht wird, wenn ein jedes von Anbeginn ausschliesslich auf seine individuellen Wahrnehmungen, Erinnerungen und er- gänzenden Vorstellungen angewiesen wäre; wenn nicht ein Commercium bestände, durch das der Erkenntniserwerb Andrer, zunächst der Umgebung des Kindes, durch deren Vermittlung aber der ganzen Vergangenheit des Menschengeschlechts ihm zugänglich würde. Die Vorstellung der umgebenden sinnlichen Welt ist Gemeinbesitz im inhaltvollsten Sinn; sie ist gemein- schaftlich, nicht bloss sofern jeder für sich sie im allgemeinen auf gleiche Art vollzieht, sondern sofern kein Einzelner sie vollziehen könnte ohne die Mitarbeit der Andern; ja auch nicht die ganze jetzt lebende Menschheit ohne die Errungenschaft der gesamten bisher dagewesenen. Für die Pädagogik ist diese Thatsache von einer so fundamentalen Bedeutung wie wenig andere; denn es gäbe gar keinen Anfang erziehender Thätigkeit ohne sie.
Besonders greifbar aber stellt sich dieser Sachverhalt dar in der menschlichen Sprache und ihrer unermesslichen Bedeutung für die menschliche Erkenntnis, für die Gestaltung eines menschlichen Bewusstseins überhaupt. Bedenkt man, wie unmittelbar und unauslöschlich uns die Dinge unserer Erkenntnis und alles, was wir daran zu erkennen glauben,
des vermeintlich Gegebenen der Sinnlichkeit vom Gesetz des Geistes sich besinnt.
Und auf diesen ganzen Stufengang der Befreiung des Be- wusstseins erstreckt sich nun jener Einfluss der Gemeinschaft. Er erstreckt sich selbst bis auf die sinnliche Wahrnehmung. Selbst eine menschliche Wahrnehmung würde sich im Men- schen nicht entwickeln abseits menschlicher Gemeinschaft. Denn diese Wahrnehmung schliesst eine ganz bestimmte Weise der Auffassung ein, die nicht von der Natur schlechthin dar- geboten, sondern vom Menschen nach seinen eigentümlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten zustande gebracht und im Men- schengeschlecht nicht sowohl physisch vererbt, als vielmehr psychisch überliefert wird. Es wäre undenkbar, dass das Chaos der Eindrücke sich in eine geordnete Objektwelt umschüfe, wie es doch in jedem normalen Kinde in den ersten Lebensjahren vollbracht wird, wenn ein jedes von Anbeginn ausschliesslich auf seine individuellen Wahrnehmungen, Erinnerungen und er- gänzenden Vorstellungen angewiesen wäre; wenn nicht ein Commercium bestände, durch das der Erkenntniserwerb Andrer, zunächst der Umgebung des Kindes, durch deren Vermittlung aber der ganzen Vergangenheit des Menschengeschlechts ihm zugänglich würde. Die Vorstellung der umgebenden sinnlichen Welt ist Gemeinbesitz im inhaltvollsten Sinn; sie ist gemein- schaftlich, nicht bloss sofern jeder für sich sie im allgemeinen auf gleiche Art vollzieht, sondern sofern kein Einzelner sie vollziehen könnte ohne die Mitarbeit der Andern; ja auch nicht die ganze jetzt lebende Menschheit ohne die Errungenschaft der gesamten bisher dagewesenen. Für die Pädagogik ist diese Thatsache von einer so fundamentalen Bedeutung wie wenig andere; denn es gäbe gar keinen Anfang erziehender Thätigkeit ohne sie.
Besonders greifbar aber stellt sich dieser Sachverhalt dar in der menschlichen Sprache und ihrer unermesslichen Bedeutung für die menschliche Erkenntnis, für die Gestaltung eines menschlichen Bewusstseins überhaupt. Bedenkt man, wie unmittelbar und unauslöschlich uns die Dinge unserer Erkenntnis und alles, was wir daran zu erkennen glauben,
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des vermeintlich Gegebenen der Sinnlichkeit vom Gesetz des
Geistes sich besinnt.
Und auf diesen ganzen Stufengang der Befreiung des Be-
wusstseins erstreckt sich nun jener Einfluss der Gemeinschaft.
Er erstreckt sich selbst bis auf die sinnliche Wahrnehmung.
Selbst eine menschliche Wahrnehmung würde sich im Men-
schen nicht entwickeln abseits menschlicher Gemeinschaft.
Denn diese Wahrnehmung schliesst eine ganz bestimmte Weise
der Auffassung ein, die nicht von der Natur schlechthin dar-
geboten, sondern vom Menschen nach seinen eigentümlichen
Bedürfnissen und Fähigkeiten zustande gebracht und im Men-
schengeschlecht nicht sowohl physisch vererbt, als vielmehr
psychisch überliefert wird. Es wäre undenkbar, dass das Chaos
der Eindrücke sich in eine geordnete Objektwelt umschüfe, wie
es doch in jedem normalen Kinde in den ersten Lebensjahren
vollbracht wird, wenn ein jedes von Anbeginn ausschliesslich
auf seine individuellen Wahrnehmungen, Erinnerungen und er-
gänzenden Vorstellungen angewiesen wäre; wenn nicht ein
Commercium bestände, durch das der Erkenntniserwerb Andrer,
zunächst der Umgebung des Kindes, durch deren Vermittlung
aber der ganzen Vergangenheit des Menschengeschlechts ihm
zugänglich würde. Die Vorstellung der umgebenden sinnlichen
Welt ist Gemeinbesitz im inhaltvollsten Sinn; sie ist gemein-
schaftlich, nicht bloss sofern jeder für sich sie im allgemeinen
auf gleiche Art vollzieht, sondern sofern kein Einzelner sie
vollziehen könnte ohne die Mitarbeit der Andern; ja auch nicht
die ganze jetzt lebende Menschheit ohne die Errungenschaft
der gesamten bisher dagewesenen. Für die Pädagogik ist
diese Thatsache von einer so fundamentalen Bedeutung wie
wenig andere; denn es gäbe gar keinen Anfang erziehender
Thätigkeit ohne sie.
Besonders greifbar aber stellt sich dieser Sachverhalt dar
in der menschlichen Sprache und ihrer unermesslichen
Bedeutung für die menschliche Erkenntnis, für die Gestaltung
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/90>, abgerufen am 24.11.2024.
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