das ist es in der That nicht, was wir Gemeinschaft nennen. Wir verstehen darunter vielmehr, was ja auch das Wort an- deutet: dass man einen geistigen Besitz gemein hat und zu gleichen Rechten geniesst; nicht also der Eine mit seinem geistigen Inhalt in blosser Abhängigkeit vom Andern verharrt. Diese Abhängigkeit, wie sie wenigstens dem Kinde im Ver- hältnis zum Erwachsenen natürlich ist (auch da übrigens nicht in dem Grade stattfindet, wie Pädagogen gerne möchten), mag immerhin den Ausgangspunkt bilden; aber von Willensgemein- schaft, von Willensbildung durch Gemeinschaft kann eigentlich erst dann und genau so weit geredet werden, als der Eine dem Andern als Gleicher gegenübersteht und in freier Ueberein- stimmung mit ihm dasselbe wollen lernt; denn Wille im Voll- sinn des Worts bedeutet Selbstbewusstsein.
Wie sich aber dies in der Gemeinschaft gestaltet, kann gerade die Analogie der Entwicklung theoretischer Erkennt- nis in der Gemeinschaft, nämlich des Lehrenden und Lernen- den, uns klar machen. Diese besteht ja nach dem Gesagten nicht etwa darin, dass ich mit den Augen des Andern sehe, d. h. mir die Augen verbinde und mich der seinen statt der meinen bediene; das wäre etwa autoritatives Annehmen von Meinungen. Sondern ich muss die eigenen Augen gebrauchen, aber ihren Blick üben und lenken lernen, so wie der Andre ihn üben und lenken musste, um mich mit meinem eigenen Blick in seinen Blickpunkt versetzen zu können und so zu sehen, was er sieht, ich aber zuvor nicht sah. Das hatte Sokrates im Sinn, als er behauptete, es gebe gar kein Lehren und Lernen, sofern darunter verstanden wird ein Hinüberleiten, gleichsam Einschütten der Erkenntnis, die der Eine hat, in die Seele des Andern wie in ein leeres Gefäss; das Einsehen könne jeder nur selber leisten, Erkenntnis sei nur aus dem Selbst- bewusstsein zu schöpfen, und alles, was der Andre dazu bei- trage, sei die Veranlassung zum Suchen durch Frage und Weckung von Zweifeln; gleichsam die Hinweisung auf die Gegend, wo das Gesuchte zu finden sein muss. Dass aber auf diese Art die Gemeinschaft unterrichtend wirkt, ja ein wahrer Unterricht nur so möglich ist, hatte Sokrates, und ihm folgend
das ist es in der That nicht, was wir Gemeinschaft nennen. Wir verstehen darunter vielmehr, was ja auch das Wort an- deutet: dass man einen geistigen Besitz gemein hat und zu gleichen Rechten geniesst; nicht also der Eine mit seinem geistigen Inhalt in blosser Abhängigkeit vom Andern verharrt. Diese Abhängigkeit, wie sie wenigstens dem Kinde im Ver- hältnis zum Erwachsenen natürlich ist (auch da übrigens nicht in dem Grade stattfindet, wie Pädagogen gerne möchten), mag immerhin den Ausgangspunkt bilden; aber von Willensgemein- schaft, von Willensbildung durch Gemeinschaft kann eigentlich erst dann und genau so weit geredet werden, als der Eine dem Andern als Gleicher gegenübersteht und in freier Ueberein- stimmung mit ihm dasselbe wollen lernt; denn Wille im Voll- sinn des Worts bedeutet Selbstbewusstsein.
Wie sich aber dies in der Gemeinschaft gestaltet, kann gerade die Analogie der Entwicklung theoretischer Erkennt- nis in der Gemeinschaft, nämlich des Lehrenden und Lernen- den, uns klar machen. Diese besteht ja nach dem Gesagten nicht etwa darin, dass ich mit den Augen des Andern sehe, d. h. mir die Augen verbinde und mich der seinen statt der meinen bediene; das wäre etwa autoritatives Annehmen von Meinungen. Sondern ich muss die eigenen Augen gebrauchen, aber ihren Blick üben und lenken lernen, so wie der Andre ihn üben und lenken musste, um mich mit meinem eigenen Blick in seinen Blickpunkt versetzen zu können und so zu sehen, was er sieht, ich aber zuvor nicht sah. Das hatte Sokrates im Sinn, als er behauptete, es gebe gar kein Lehren und Lernen, sofern darunter verstanden wird ein Hinüberleiten, gleichsam Einschütten der Erkenntnis, die der Eine hat, in die Seele des Andern wie in ein leeres Gefäss; das Einsehen könne jeder nur selber leisten, Erkenntnis sei nur aus dem Selbst- bewusstsein zu schöpfen, und alles, was der Andre dazu bei- trage, sei die Veranlassung zum Suchen durch Frage und Weckung von Zweifeln; gleichsam die Hinweisung auf die Gegend, wo das Gesuchte zu finden sein muss. Dass aber auf diese Art die Gemeinschaft unterrichtend wirkt, ja ein wahrer Unterricht nur so möglich ist, hatte Sokrates, und ihm folgend
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das ist es in der That nicht, was wir Gemeinschaft nennen.
Wir verstehen darunter vielmehr, was ja auch das Wort an-
deutet: dass man einen geistigen Besitz gemein hat und zu
gleichen Rechten geniesst; nicht also der Eine mit seinem
geistigen Inhalt in blosser Abhängigkeit vom Andern verharrt.
Diese Abhängigkeit, wie sie wenigstens dem Kinde im Ver-
hältnis zum Erwachsenen natürlich ist (auch da übrigens nicht
in dem Grade stattfindet, wie Pädagogen gerne möchten), mag
immerhin den Ausgangspunkt bilden; aber von Willensgemein-
schaft, von Willensbildung durch Gemeinschaft kann eigentlich
erst dann und genau so weit geredet werden, als der Eine dem
Andern als Gleicher gegenübersteht und in freier Ueberein-
stimmung mit ihm dasselbe wollen lernt; denn Wille im Voll-
sinn des Worts bedeutet Selbstbewusstsein.
Wie sich aber dies in der Gemeinschaft gestaltet, kann
gerade die Analogie der Entwicklung theoretischer Erkennt-
nis in der Gemeinschaft, nämlich des Lehrenden und Lernen-
den, uns klar machen. Diese besteht ja nach dem Gesagten
nicht etwa darin, dass ich mit den Augen des Andern sehe,
d. h. mir die Augen verbinde und mich der seinen statt der
meinen bediene; das wäre etwa autoritatives Annehmen von
Meinungen. Sondern ich muss die eigenen Augen gebrauchen,
aber ihren Blick üben und lenken lernen, so wie der Andre
ihn üben und lenken musste, um mich mit meinem eigenen
Blick in seinen Blickpunkt versetzen zu können und so zu
sehen, was er sieht, ich aber zuvor nicht sah. Das hatte
Sokrates im Sinn, als er behauptete, es gebe gar kein Lehren
und Lernen, sofern darunter verstanden wird ein Hinüberleiten,
gleichsam Einschütten der Erkenntnis, die der Eine hat, in die
Seele des Andern wie in ein leeres Gefäss; das Einsehen könne
jeder nur selber leisten, Erkenntnis sei nur aus dem Selbst-
bewusstsein zu schöpfen, und alles, was der Andre dazu bei-
trage, sei die Veranlassung zum Suchen durch Frage und
Weckung von Zweifeln; gleichsam die Hinweisung auf die
Gegend, wo das Gesuchte zu finden sein muss. Dass aber auf
diese Art die Gemeinschaft unterrichtend wirkt, ja ein wahrer
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/92>, abgerufen am 21.11.2024.
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