Plato, tief erkannt, der sich die Entwicklung der Erkenntnis schon gar nicht mehr anders als im wechselseitigen Austausch, im Unterreden zu denken vermochte.
Was aber so vom theoretischen Lernen gilt und als An- fang einer gesunden "Didaktik" nie vergessen werden sollte, dasselbe findet nicht bloss auch Anwendung auf die Willens- bildung, als sei das eben nur eine Art solchen Lernens, son- dern dies theoretische Lernen geschieht wiederum gar nicht ohne Willensentwicklung. Es geschieht, so wurde gesagt, indem man den eigenen Blick üben und lenken lernt: das ist aber schon Willensthat. Das theoretische Lernen kann auch in dem Sinne nur selbsteigene Leistung sein, dass es vom Wollen abhängt; dass man das Lernen selber nur lernt, indem man wollen lernt. Also ist gewiss jeder wahre, nämlich freie Ein- sicht und nicht bloss autoritative Annahme wirkende Unterricht zugleich eine Erziehung, nicht als ob die blosse Verstandes- belehrung von selbst den Willen bewegte, sondern vielmehr umgekehrt, indem die Verstandesbelehrung ohne Willensent- wicklung gar nicht erreicht würde.
Und zwar ist die primäre Wirkung der Gemeinschaft die auf den Willen. Man lernt wollen, indem man die Er- fahrung macht vom Wollen des Andern. Der energische Wille des Andern, sagt man, reisst uns fort, etwa dem starken Strom gleich, der den trägeren Zufluss in sich aufnimmt und so sein Gewässer in die gleiche mächtige Bewegung zwingt. Aber ein solches Bild verdunkelt noch zu sehr, dass gerade die Energie des Selberwollens erhöht, der eigene Wille nicht gezwungen oder in Abhängigkeit gebracht, sondern erst recht auf sich selbst gestellt wird durch die Erfahrung, wie der Wille des Andern selbständig und in dieser Selbständigkeit energisch ist. Analog also wie ich im Falle des theoretischen Lernens das, was der Andre sah und ich zuerst nicht sah, sehen lerne, indem ich mich in seinen Blickpunkt mit Willen selber ver- setze, so besinne ich mich erst auf den letzten Grund des Wollens im Urgesetze des Selbstbewusstseins, indem ich am Andern die Erfahrung mache, wie auf diesen letzten Grund sein Wollen immer zurückweist und aus ihm hervorgeht.
Plato, tief erkannt, der sich die Entwicklung der Erkenntnis schon gar nicht mehr anders als im wechselseitigen Austausch, im Unterreden zu denken vermochte.
Was aber so vom theoretischen Lernen gilt und als An- fang einer gesunden „Didaktik“ nie vergessen werden sollte, dasselbe findet nicht bloss auch Anwendung auf die Willens- bildung, als sei das eben nur eine Art solchen Lernens, son- dern dies theoretische Lernen geschieht wiederum gar nicht ohne Willensentwicklung. Es geschieht, so wurde gesagt, indem man den eigenen Blick üben und lenken lernt: das ist aber schon Willensthat. Das theoretische Lernen kann auch in dem Sinne nur selbsteigene Leistung sein, dass es vom Wollen abhängt; dass man das Lernen selber nur lernt, indem man wollen lernt. Also ist gewiss jeder wahre, nämlich freie Ein- sicht und nicht bloss autoritative Annahme wirkende Unterricht zugleich eine Erziehung, nicht als ob die blosse Verstandes- belehrung von selbst den Willen bewegte, sondern vielmehr umgekehrt, indem die Verstandesbelehrung ohne Willensent- wicklung gar nicht erreicht würde.
Und zwar ist die primäre Wirkung der Gemeinschaft die auf den Willen. Man lernt wollen, indem man die Er- fahrung macht vom Wollen des Andern. Der energische Wille des Andern, sagt man, reisst uns fort, etwa dem starken Strom gleich, der den trägeren Zufluss in sich aufnimmt und so sein Gewässer in die gleiche mächtige Bewegung zwingt. Aber ein solches Bild verdunkelt noch zu sehr, dass gerade die Energie des Selberwollens erhöht, der eigene Wille nicht gezwungen oder in Abhängigkeit gebracht, sondern erst recht auf sich selbst gestellt wird durch die Erfahrung, wie der Wille des Andern selbständig und in dieser Selbständigkeit energisch ist. Analog also wie ich im Falle des theoretischen Lernens das, was der Andre sah und ich zuerst nicht sah, sehen lerne, indem ich mich in seinen Blickpunkt mit Willen selber ver- setze, so besinne ich mich erst auf den letzten Grund des Wollens im Urgesetze des Selbstbewusstseins, indem ich am Andern die Erfahrung mache, wie auf diesen letzten Grund sein Wollen immer zurückweist und aus ihm hervorgeht.
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Plato, tief erkannt, der sich die Entwicklung der Erkenntnis
schon gar nicht mehr anders als im wechselseitigen Austausch,
im Unterreden zu denken vermochte.
Was aber so vom theoretischen Lernen gilt und als An-
fang einer gesunden „Didaktik“ nie vergessen werden sollte,
dasselbe findet nicht bloss auch Anwendung auf die Willens-
bildung, als sei das eben nur eine Art solchen Lernens, son-
dern dies theoretische Lernen geschieht wiederum gar nicht ohne
Willensentwicklung. Es geschieht, so wurde gesagt, indem
man den eigenen Blick üben und lenken lernt: das ist aber
schon Willensthat. Das theoretische Lernen kann auch in
dem Sinne nur selbsteigene Leistung sein, dass es vom Wollen
abhängt; dass man das Lernen selber nur lernt, indem man
wollen lernt. Also ist gewiss jeder wahre, nämlich freie Ein-
sicht und nicht bloss autoritative Annahme wirkende Unterricht
zugleich eine Erziehung, nicht als ob die blosse Verstandes-
belehrung von selbst den Willen bewegte, sondern vielmehr
umgekehrt, indem die Verstandesbelehrung ohne Willensent-
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Und zwar ist die primäre Wirkung der Gemeinschaft
die auf den Willen. Man lernt wollen, indem man die Er-
fahrung macht vom Wollen des Andern. Der energische Wille
des Andern, sagt man, reisst uns fort, etwa dem starken Strom
gleich, der den trägeren Zufluss in sich aufnimmt und so sein
Gewässer in die gleiche mächtige Bewegung zwingt. Aber ein
solches Bild verdunkelt noch zu sehr, dass gerade die Energie
des Selberwollens erhöht, der eigene Wille nicht gezwungen
oder in Abhängigkeit gebracht, sondern erst recht auf sich
selbst gestellt wird durch die Erfahrung, wie der Wille des
Andern selbständig und in dieser Selbständigkeit energisch ist.
Analog also wie ich im Falle des theoretischen Lernens das,
was der Andre sah und ich zuerst nicht sah, sehen lerne,
indem ich mich in seinen Blickpunkt mit Willen selber ver-
setze, so besinne ich mich erst auf den letzten Grund des
Wollens im Urgesetze des Selbstbewusstseins, indem ich am
Andern die Erfahrung mache, wie auf diesen letzten Grund
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/93>, abgerufen am 24.11.2024.
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