Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Teil der Erziehungslehre etwa neben der individuellen, sondern
die konkrete Fassung der Aufgabe der Pädagogik überhaupt und
besonders der Pädagogik des Willens. Die bloss individuale
Betrachtung der Erziehung ist eine Abstraktion, die ihren be-
grenzten Wert hat, aber schliesslich überwunden werden muss.

Der Begriff der Sozialpädagogik besagt also die grund-
sätzliche Anerkennung, dass ebenso die Erziehung des Indi-
viduums in jeder wesentlichen Richtung sozial bedingt sei,
wie andrerseits eine menschliche Gestaltung sozialen Lebens
fundamental bedingt ist durch eine ihm gemässe Erziehung
der Individuen, die an ihm teilnehmen sollen. Danach muss
dann auch die letzte, umfassendste Aufgabe der Bildung für
den Einzelnen und für alle Einzelnen sich bestimmen. Die
sozialen Bedingungen der Bildung also und die Bildungs-
bedingungen des sozialen Lebens, das ist das Thema dieser
Wissenschaft. *) Und dies betrachten wir nicht als zwei von
einander trennbare Aufgaben, sondern als eine einzige. Denn
die Gemeinschaft besteht nur im Verein der Individuen, und
dieser Verein wiederum nur im Bewusstsein der Einzelglieder.
Das letzte Gesetz ist daher für beide, Individuum und Gemein-
schaft, notwendig eins und dasselbe.

Diese Einsicht ist aber zugleich von entscheidender Be-
deutung für ein wissenschaftliches Verständnis des
sozialen Lebens selbst
. Die Gemeinschaft ist kein starrer,
invariabler Faktor, so wenig wie das Individuum. Sie unter-
liegt gleich diesem der Entwicklung, und diese Entwicklung
muss schliesslich denselben allgemeinen Gesetzen
folgen wie die Entwicklung des Individuums. Die Kenntnis
wenigstens ihrer obersten Gesetze ist zugleich die Voraussetzung
auch jeder ernsthaften Erwägung des Einflusses, den die Ge-
meinschaft auf die Bildung des Einzelnen übt und üben soll.
Also darf eine wahre Sozialpädagogik der Frage nach den
Grundgesetzen des Gemeinschaftslebens nicht aus-
weichen. Auch muss diese Frage aus unsern Prinzipien beant-
wortbar sein, eben weil die allgemeinen Bildungsgesetze der

*) Vgl. "Religion" S. 86.

Teil der Erziehungslehre etwa neben der individuellen, sondern
die konkrete Fassung der Aufgabe der Pädagogik überhaupt und
besonders der Pädagogik des Willens. Die bloss individuale
Betrachtung der Erziehung ist eine Abstraktion, die ihren be-
grenzten Wert hat, aber schliesslich überwunden werden muss.

Der Begriff der Sozialpädagogik besagt also die grund-
sätzliche Anerkennung, dass ebenso die Erziehung des Indi-
viduums in jeder wesentlichen Richtung sozial bedingt sei,
wie andrerseits eine menschliche Gestaltung sozialen Lebens
fundamental bedingt ist durch eine ihm gemässe Erziehung
der Individuen, die an ihm teilnehmen sollen. Danach muss
dann auch die letzte, umfassendste Aufgabe der Bildung für
den Einzelnen und für alle Einzelnen sich bestimmen. Die
sozialen Bedingungen der Bildung also und die Bildungs-
bedingungen des sozialen Lebens, das ist das Thema dieser
Wissenschaft. *) Und dies betrachten wir nicht als zwei von
einander trennbare Aufgaben, sondern als eine einzige. Denn
die Gemeinschaft besteht nur im Verein der Individuen, und
dieser Verein wiederum nur im Bewusstsein der Einzelglieder.
Das letzte Gesetz ist daher für beide, Individuum und Gemein-
schaft, notwendig eins und dasselbe.

Diese Einsicht ist aber zugleich von entscheidender Be-
deutung für ein wissenschaftliches Verständnis des
sozialen Lebens selbst
. Die Gemeinschaft ist kein starrer,
invariabler Faktor, so wenig wie das Individuum. Sie unter-
liegt gleich diesem der Entwicklung, und diese Entwicklung
muss schliesslich denselben allgemeinen Gesetzen
folgen wie die Entwicklung des Individuums. Die Kenntnis
wenigstens ihrer obersten Gesetze ist zugleich die Voraussetzung
auch jeder ernsthaften Erwägung des Einflusses, den die Ge-
meinschaft auf die Bildung des Einzelnen übt und üben soll.
Also darf eine wahre Sozialpädagogik der Frage nach den
Grundgesetzen des Gemeinschaftslebens nicht aus-
weichen. Auch muss diese Frage aus unsern Prinzipien beant-
wortbar sein, eben weil die allgemeinen Bildungsgesetze der

*) Vgl. „Religion“ S. 86.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0095" n="79"/>
Teil der Erziehungslehre etwa neben der individuellen, sondern<lb/>
die konkrete Fassung der Aufgabe der Pädagogik überhaupt und<lb/>
besonders der Pädagogik des Willens. Die bloss individuale<lb/>
Betrachtung der Erziehung ist eine Abstraktion, die ihren be-<lb/>
grenzten Wert hat, aber schliesslich überwunden werden muss.</p><lb/>
          <p>Der Begriff der Sozialpädagogik besagt also die grund-<lb/>
sätzliche Anerkennung, dass ebenso die Erziehung des Indi-<lb/>
viduums in jeder wesentlichen Richtung sozial bedingt sei,<lb/>
wie andrerseits eine menschliche Gestaltung sozialen Lebens<lb/>
fundamental bedingt ist durch eine ihm gemässe Erziehung<lb/>
der Individuen, die an ihm teilnehmen sollen. Danach muss<lb/>
dann auch die letzte, umfassendste Aufgabe der Bildung für<lb/>
den Einzelnen und für alle Einzelnen sich bestimmen. Die<lb/>
sozialen Bedingungen der Bildung also und die Bildungs-<lb/>
bedingungen des sozialen Lebens, das ist das Thema dieser<lb/>
Wissenschaft. <note place="foot" n="*)">Vgl. &#x201E;Religion&#x201C; S. 86.</note> Und dies betrachten wir nicht als zwei von<lb/>
einander trennbare Aufgaben, sondern als eine einzige. Denn<lb/>
die Gemeinschaft besteht nur im Verein der Individuen, und<lb/>
dieser Verein wiederum nur im Bewusstsein der Einzelglieder.<lb/>
Das letzte Gesetz ist daher für beide, Individuum und Gemein-<lb/>
schaft, notwendig eins und dasselbe.</p><lb/>
          <p>Diese Einsicht ist aber zugleich von entscheidender Be-<lb/>
deutung für ein <hi rendition="#g">wissenschaftliches Verständnis des<lb/>
sozialen Lebens selbst</hi>. Die Gemeinschaft ist kein starrer,<lb/>
invariabler Faktor, so wenig wie das Individuum. Sie unter-<lb/>
liegt gleich diesem der Entwicklung, und diese Entwicklung<lb/>
muss schliesslich <hi rendition="#g">denselben allgemeinen Gesetzen</hi><lb/>
folgen wie die Entwicklung des Individuums. Die Kenntnis<lb/>
wenigstens ihrer obersten Gesetze ist zugleich die Voraussetzung<lb/>
auch jeder ernsthaften Erwägung des Einflusses, den die Ge-<lb/>
meinschaft auf die Bildung des Einzelnen übt und üben soll.<lb/>
Also darf eine wahre Sozialpädagogik der Frage nach den<lb/><hi rendition="#g">Grundgesetzen des Gemeinschaftslebens</hi> nicht aus-<lb/>
weichen. Auch muss diese Frage aus unsern Prinzipien beant-<lb/>
wortbar sein, eben weil die allgemeinen Bildungsgesetze der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0095] Teil der Erziehungslehre etwa neben der individuellen, sondern die konkrete Fassung der Aufgabe der Pädagogik überhaupt und besonders der Pädagogik des Willens. Die bloss individuale Betrachtung der Erziehung ist eine Abstraktion, die ihren be- grenzten Wert hat, aber schliesslich überwunden werden muss. Der Begriff der Sozialpädagogik besagt also die grund- sätzliche Anerkennung, dass ebenso die Erziehung des Indi- viduums in jeder wesentlichen Richtung sozial bedingt sei, wie andrerseits eine menschliche Gestaltung sozialen Lebens fundamental bedingt ist durch eine ihm gemässe Erziehung der Individuen, die an ihm teilnehmen sollen. Danach muss dann auch die letzte, umfassendste Aufgabe der Bildung für den Einzelnen und für alle Einzelnen sich bestimmen. Die sozialen Bedingungen der Bildung also und die Bildungs- bedingungen des sozialen Lebens, das ist das Thema dieser Wissenschaft. *) Und dies betrachten wir nicht als zwei von einander trennbare Aufgaben, sondern als eine einzige. Denn die Gemeinschaft besteht nur im Verein der Individuen, und dieser Verein wiederum nur im Bewusstsein der Einzelglieder. Das letzte Gesetz ist daher für beide, Individuum und Gemein- schaft, notwendig eins und dasselbe. Diese Einsicht ist aber zugleich von entscheidender Be- deutung für ein wissenschaftliches Verständnis des sozialen Lebens selbst. Die Gemeinschaft ist kein starrer, invariabler Faktor, so wenig wie das Individuum. Sie unter- liegt gleich diesem der Entwicklung, und diese Entwicklung muss schliesslich denselben allgemeinen Gesetzen folgen wie die Entwicklung des Individuums. Die Kenntnis wenigstens ihrer obersten Gesetze ist zugleich die Voraussetzung auch jeder ernsthaften Erwägung des Einflusses, den die Ge- meinschaft auf die Bildung des Einzelnen übt und üben soll. Also darf eine wahre Sozialpädagogik der Frage nach den Grundgesetzen des Gemeinschaftslebens nicht aus- weichen. Auch muss diese Frage aus unsern Prinzipien beant- wortbar sein, eben weil die allgemeinen Bildungsgesetze der *) Vgl. „Religion“ S. 86.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/95
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/95>, abgerufen am 18.05.2024.