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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773.

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Hier. Jch habe Jhnen schon gesagt, daß ich von
keinem Gottesgelehrten urtheilen will: aber ich ver-
ehre die großen Schriftsteller in allen Wissenschaf-
ten, die von philosophischen und menschenfreundlichen
Absichten belebt, mehrere Wissenschaften zugleich über-
schauen, und das wahre Verhältniß einer jeden zur
allgemeinen Erkenntniß zu bestimmen suchen. Deutsch-
land hat einige, und sie sind vortreflich, aber sie sind
in sehr geringer Anzahl. Die meisten deutschen
Schriftsteller, sind voll pedantischen Stolzes, nur
bemühet, den Theil der Wissenschaften den sie
lehren, er mag nun klein, unbeträchtlich, ja wohl
schädlich seyn, als den wichtigsten auszugeben, und
ihm dünkt, um zu meinem vorigen Gleichnisse zurück
zu kommen, daß der kleine Haufen Steine den sie
sammlen und Stein über Stein aufstapeln, wich-
tiger und nützlicher sey, als das gröste Gebäude.

Seb. Mein Freund! Sie sind wirklich gegen die
deutschen Gelehrten ungerecht, und nehmen Sie es
mir nicht übel, fast muß ich glauben, dis komme von
ihrem Stande her. Sie selbst haben die Tiefen der
Gelehrsamkeit nicht erforschet, und wissen also auch
nicht, wie ein wahrer Gelehrter eigentlich beschaffen
ist. Ein wahrer Gelehrter siehet alle Gegenstände
der menschlichen Erkenntniß in einem weit hellern

Lichte
J 2


Hier. Jch habe Jhnen ſchon geſagt, daß ich von
keinem Gottesgelehrten urtheilen will: aber ich ver-
ehre die großen Schriftſteller in allen Wiſſenſchaf-
ten, die von philoſophiſchen und menſchenfreundlichen
Abſichten belebt, mehrere Wiſſenſchaften zugleich uͤber-
ſchauen, und das wahre Verhaͤltniß einer jeden zur
allgemeinen Erkenntniß zu beſtimmen ſuchen. Deutſch-
land hat einige, und ſie ſind vortreflich, aber ſie ſind
in ſehr geringer Anzahl. Die meiſten deutſchen
Schriftſteller, ſind voll pedantiſchen Stolzes, nur
bemuͤhet, den Theil der Wiſſenſchaften den ſie
lehren, er mag nun klein, unbetraͤchtlich, ja wohl
ſchaͤdlich ſeyn, als den wichtigſten auszugeben, und
ihm duͤnkt, um zu meinem vorigen Gleichniſſe zuruͤck
zu kommen, daß der kleine Haufen Steine den ſie
ſammlen und Stein uͤber Stein aufſtapeln, wich-
tiger und nuͤtzlicher ſey, als das groͤſte Gebaͤude.

Seb. Mein Freund! Sie ſind wirklich gegen die
deutſchen Gelehrten ungerecht, und nehmen Sie es
mir nicht uͤbel, faſt muß ich glauben, dis komme von
ihrem Stande her. Sie ſelbſt haben die Tiefen der
Gelehrſamkeit nicht erforſchet, und wiſſen alſo auch
nicht, wie ein wahrer Gelehrter eigentlich beſchaffen
iſt. Ein wahrer Gelehrter ſiehet alle Gegenſtaͤnde
der menſchlichen Erkenntniß in einem weit hellern

Lichte
J 2
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[131/0155] Hier. Jch habe Jhnen ſchon geſagt, daß ich von keinem Gottesgelehrten urtheilen will: aber ich ver- ehre die großen Schriftſteller in allen Wiſſenſchaf- ten, die von philoſophiſchen und menſchenfreundlichen Abſichten belebt, mehrere Wiſſenſchaften zugleich uͤber- ſchauen, und das wahre Verhaͤltniß einer jeden zur allgemeinen Erkenntniß zu beſtimmen ſuchen. Deutſch- land hat einige, und ſie ſind vortreflich, aber ſie ſind in ſehr geringer Anzahl. Die meiſten deutſchen Schriftſteller, ſind voll pedantiſchen Stolzes, nur bemuͤhet, den Theil der Wiſſenſchaften den ſie lehren, er mag nun klein, unbetraͤchtlich, ja wohl ſchaͤdlich ſeyn, als den wichtigſten auszugeben, und ihm duͤnkt, um zu meinem vorigen Gleichniſſe zuruͤck zu kommen, daß der kleine Haufen Steine den ſie ſammlen und Stein uͤber Stein aufſtapeln, wich- tiger und nuͤtzlicher ſey, als das groͤſte Gebaͤude. Seb. Mein Freund! Sie ſind wirklich gegen die deutſchen Gelehrten ungerecht, und nehmen Sie es mir nicht uͤbel, faſt muß ich glauben, dis komme von ihrem Stande her. Sie ſelbſt haben die Tiefen der Gelehrſamkeit nicht erforſchet, und wiſſen alſo auch nicht, wie ein wahrer Gelehrter eigentlich beſchaffen iſt. Ein wahrer Gelehrter ſiehet alle Gegenſtaͤnde der menſchlichen Erkenntniß in einem weit hellern Lichte J 2

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Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/155>, abgerufen am 12.05.2024.