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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773.

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müste, und dieses Bild ihrer Einbildungskraft selbst
machte ihn ihrem Herzen liebenswürdiger. Jeden
Ort wo sie ihn gesehen hatte besuchte sie mit einer
zärtlichen Schwermuth, und des Nachts stand sein
geliebtes Bild beständig vor ihren Augen.

Einst ergriff sie von ohngefehr die Lettres d'une
Religieuse portugaise,
die sie, auf Befehl, so oft ih-
ren Fräulein ganz ruhig vorgelesen hatte. Sie er-
staunte darüber, daß ihr so viel Bilder belebt, so viel
Klagen herzrührend, so viel Empfindnisse aus der
Seele herausgezogen schienen, über die sie vorher weg-
gelesen hatte. So sehr wahr ist es, daß Bücher voll
verliebter Empfindungen, die auf den Weisen und
Gleichgültigen wenig Eindruck machen, in ein junges
unerfahrnes Herz, das den ersten Eindrücken dieser
gefährlichen Leidenschaft offen steht, den süßen Gift
weit tiefer hineinflößen als selbst die Reden des Ge-
liebten: weil die erhitzte Einbildungskraft, mit ihren
eigenen Geschöpfen nach Belieben spielend, die Em-
pfindungen viel reiner inniger und heftiger vorstellt,
als sie in der wirklichen Welt seyn können, in der sie
durch hundert ganz gemeine gleichgültige Umstände
vermischt, seichter gemacht und gemildert werden.

Nun ward dieses Buch Marianens tägliche Le-
ctur. Sie wünschte, daß ihr Säugling solche Briefe

voll



muͤſte, und dieſes Bild ihrer Einbildungskraft ſelbſt
machte ihn ihrem Herzen liebenswuͤrdiger. Jeden
Ort wo ſie ihn geſehen hatte beſuchte ſie mit einer
zaͤrtlichen Schwermuth, und des Nachts ſtand ſein
geliebtes Bild beſtaͤndig vor ihren Augen.

Einſt ergriff ſie von ohngefehr die Lettres d’une
Religieuſe portugaiſe,
die ſie, auf Befehl, ſo oft ih-
ren Fraͤulein ganz ruhig vorgeleſen hatte. Sie er-
ſtaunte daruͤber, daß ihr ſo viel Bilder belebt, ſo viel
Klagen herzruͤhrend, ſo viel Empfindniſſe aus der
Seele herausgezogen ſchienen, uͤber die ſie vorher weg-
geleſen hatte. So ſehr wahr iſt es, daß Buͤcher voll
verliebter Empfindungen, die auf den Weiſen und
Gleichguͤltigen wenig Eindruck machen, in ein junges
unerfahrnes Herz, das den erſten Eindruͤcken dieſer
gefaͤhrlichen Leidenſchaft offen ſteht, den ſuͤßen Gift
weit tiefer hineinfloͤßen als ſelbſt die Reden des Ge-
liebten: weil die erhitzte Einbildungskraft, mit ihren
eigenen Geſchoͤpfen nach Belieben ſpielend, die Em-
pfindungen viel reiner inniger und heftiger vorſtellt,
als ſie in der wirklichen Welt ſeyn koͤnnen, in der ſie
durch hundert ganz gemeine gleichguͤltige Umſtaͤnde
vermiſcht, ſeichter gemacht und gemildert werden.

Nun ward dieſes Buch Marianens taͤgliche Le-
ctur. Sie wuͤnſchte, daß ihr Saͤugling ſolche Briefe

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[222/0248] muͤſte, und dieſes Bild ihrer Einbildungskraft ſelbſt machte ihn ihrem Herzen liebenswuͤrdiger. Jeden Ort wo ſie ihn geſehen hatte beſuchte ſie mit einer zaͤrtlichen Schwermuth, und des Nachts ſtand ſein geliebtes Bild beſtaͤndig vor ihren Augen. Einſt ergriff ſie von ohngefehr die Lettres d’une Religieuſe portugaiſe, die ſie, auf Befehl, ſo oft ih- ren Fraͤulein ganz ruhig vorgeleſen hatte. Sie er- ſtaunte daruͤber, daß ihr ſo viel Bilder belebt, ſo viel Klagen herzruͤhrend, ſo viel Empfindniſſe aus der Seele herausgezogen ſchienen, uͤber die ſie vorher weg- geleſen hatte. So ſehr wahr iſt es, daß Buͤcher voll verliebter Empfindungen, die auf den Weiſen und Gleichguͤltigen wenig Eindruck machen, in ein junges unerfahrnes Herz, das den erſten Eindruͤcken dieſer gefaͤhrlichen Leidenſchaft offen ſteht, den ſuͤßen Gift weit tiefer hineinfloͤßen als ſelbſt die Reden des Ge- liebten: weil die erhitzte Einbildungskraft, mit ihren eigenen Geſchoͤpfen nach Belieben ſpielend, die Em- pfindungen viel reiner inniger und heftiger vorſtellt, als ſie in der wirklichen Welt ſeyn koͤnnen, in der ſie durch hundert ganz gemeine gleichguͤltige Umſtaͤnde vermiſcht, ſeichter gemacht und gemildert werden. Nun ward dieſes Buch Marianens taͤgliche Le- ctur. Sie wuͤnſchte, daß ihr Saͤugling ſolche Briefe voll

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Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/248>, abgerufen am 13.05.2024.