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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773.

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"deln beflißen gewesen, in den kläglichsten Mangel
"gestürzt werde!"

Jnzwischen beschäftigte das gegenwärtige und ver-
gangene Elend den Geist viel zu sehr, als daß oft
an das künftige gedacht werden konnte. Jeder Tag
sezte zu der großen Masse des Kummers seinen reich-
lichen Antheil hinzu. Charlottgens Krankheit stieg
schnell bis auf den äußersten Gipfel. Je mehr die
Säfte ihres Körpers in die schreckliche Gährung ge-
riethen, durch die alle Theile aus der Mischung, in
der sie sich einander zusammenhalten und ernähren,
in die versezt werden, in der sie sich einander zerstören
und auflösen, desto mehr nahm ihr zarter Geist an
gezwungener Stärke, an tumultuarischer Thätigkeit
zu. Phantasien traten an die Stelle der Empfindun-
gen, und ein taubes Hinbrüten an die Stelle der
sanften Ruhe, die Körper und Geist erquickt. Sie
gerieth endlich einen Tag lang in einen betäubenden
Schlummer, aus dem sie mit der Heiterkeit einer ge-
sunden Person erwachte, sie streckte ihre kleine Hände
mit einem zärtlichen Lallen nach dem Bette ihrer schwa-
chen Mutter aus, redete ihren Vater und ihre Schwe-
ster an, die sie seit acht Tagen, bey aller zärtlichen
Bemühung derselben ihr zu helfen, nicht gekannt
hatte, richtete ihr Haupt auf, forderte ihres Vaters

Segen,



„deln beflißen geweſen, in den klaͤglichſten Mangel
„geſtuͤrzt werde!‟

Jnzwiſchen beſchaͤftigte das gegenwaͤrtige und ver-
gangene Elend den Geiſt viel zu ſehr, als daß oft
an das kuͤnftige gedacht werden konnte. Jeder Tag
ſezte zu der großen Maſſe des Kummers ſeinen reich-
lichen Antheil hinzu. Charlottgens Krankheit ſtieg
ſchnell bis auf den aͤußerſten Gipfel. Je mehr die
Saͤfte ihres Koͤrpers in die ſchreckliche Gaͤhrung ge-
riethen, durch die alle Theile aus der Miſchung, in
der ſie ſich einander zuſammenhalten und ernaͤhren,
in die verſezt werden, in der ſie ſich einander zerſtoͤren
und aufloͤſen, deſto mehr nahm ihr zarter Geiſt an
gezwungener Staͤrke, an tumultuariſcher Thaͤtigkeit
zu. Phantaſien traten an die Stelle der Empfindun-
gen, und ein taubes Hinbruͤten an die Stelle der
ſanften Ruhe, die Koͤrper und Geiſt erquickt. Sie
gerieth endlich einen Tag lang in einen betaͤubenden
Schlummer, aus dem ſie mit der Heiterkeit einer ge-
ſunden Perſon erwachte, ſie ſtreckte ihre kleine Haͤnde
mit einem zaͤrtlichen Lallen nach dem Bette ihrer ſchwa-
chen Mutter aus, redete ihren Vater und ihre Schwe-
ſter an, die ſie ſeit acht Tagen, bey aller zaͤrtlichen
Bemuͤhung derſelben ihr zu helfen, nicht gekannt
hatte, richtete ihr Haupt auf, forderte ihres Vaters

Segen,
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[63/0085] „deln beflißen geweſen, in den klaͤglichſten Mangel „geſtuͤrzt werde!‟ Jnzwiſchen beſchaͤftigte das gegenwaͤrtige und ver- gangene Elend den Geiſt viel zu ſehr, als daß oft an das kuͤnftige gedacht werden konnte. Jeder Tag ſezte zu der großen Maſſe des Kummers ſeinen reich- lichen Antheil hinzu. Charlottgens Krankheit ſtieg ſchnell bis auf den aͤußerſten Gipfel. Je mehr die Saͤfte ihres Koͤrpers in die ſchreckliche Gaͤhrung ge- riethen, durch die alle Theile aus der Miſchung, in der ſie ſich einander zuſammenhalten und ernaͤhren, in die verſezt werden, in der ſie ſich einander zerſtoͤren und aufloͤſen, deſto mehr nahm ihr zarter Geiſt an gezwungener Staͤrke, an tumultuariſcher Thaͤtigkeit zu. Phantaſien traten an die Stelle der Empfindun- gen, und ein taubes Hinbruͤten an die Stelle der ſanften Ruhe, die Koͤrper und Geiſt erquickt. Sie gerieth endlich einen Tag lang in einen betaͤubenden Schlummer, aus dem ſie mit der Heiterkeit einer ge- ſunden Perſon erwachte, ſie ſtreckte ihre kleine Haͤnde mit einem zaͤrtlichen Lallen nach dem Bette ihrer ſchwa- chen Mutter aus, redete ihren Vater und ihre Schwe- ſter an, die ſie ſeit acht Tagen, bey aller zaͤrtlichen Bemuͤhung derſelben ihr zu helfen, nicht gekannt hatte, richtete ihr Haupt auf, forderte ihres Vaters Segen,

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Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/85>, abgerufen am 21.11.2024.