Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773.um ihre Mariane schlingen wollte. Sie entschlief. Mariane hatte nur noch Kraft, ein wimmerndes Seufzen hören zu laßen, indem sie ihr nochmals den kalten Mund küßte, und hernach sanft die Augen zu- drückte. Sie fiel stumm in ihren Stuhl zurück, oh- ne Thräne, gleich einem unbeweglichen Bilde. Se- baldus in thränenloser Verzweifelung, stumm und staunend, saß ohne Bewegung, außer, daß er seinen düstern Blick von der Leiche seiner kleinen Tochter zu der Leiche seiner Frau wendete. So saßen zwischen zwo geliebten Leichen zween Lebende, todtenähnlich, in stummen Todeskummer. Der einzige Laut den man hörete, war von dem gutherzigen Bauer, der auf der Bank am Ofen sitzend, den Kopf an die Wand gelehnt, innerlich schnuckte. So saßen sie, und der Mittag war vorbey, ohne die E 2
um ihre Mariane ſchlingen wollte. Sie entſchlief. Mariane hatte nur noch Kraft, ein wimmerndes Seufzen hoͤren zu laßen, indem ſie ihr nochmals den kalten Mund kuͤßte, und hernach ſanft die Augen zu- druͤckte. Sie fiel ſtumm in ihren Stuhl zuruͤck, oh- ne Thraͤne, gleich einem unbeweglichen Bilde. Se- baldus in thraͤnenloſer Verzweifelung, ſtumm und ſtaunend, ſaß ohne Bewegung, außer, daß er ſeinen duͤſtern Blick von der Leiche ſeiner kleinen Tochter zu der Leiche ſeiner Frau wendete. So ſaßen zwiſchen zwo geliebten Leichen zween Lebende, todtenaͤhnlich, in ſtummen Todeskummer. Der einzige Laut den man hoͤrete, war von dem gutherzigen Bauer, der auf der Bank am Ofen ſitzend, den Kopf an die Wand gelehnt, innerlich ſchnuckte. So ſaßen ſie, und der Mittag war vorbey, ohne die E 2
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um ihre Mariane ſchlingen wollte. Sie entſchlief.
Mariane hatte nur noch Kraft, ein wimmerndes
Seufzen hoͤren zu laßen, indem ſie ihr nochmals den
kalten Mund kuͤßte, und hernach ſanft die Augen zu-
druͤckte. Sie fiel ſtumm in ihren Stuhl zuruͤck, oh-
ne Thraͤne, gleich einem unbeweglichen Bilde. Se-
baldus in thraͤnenloſer Verzweifelung, ſtumm und
ſtaunend, ſaß ohne Bewegung, außer, daß er ſeinen
duͤſtern Blick von der Leiche ſeiner kleinen Tochter zu
der Leiche ſeiner Frau wendete. So ſaßen zwiſchen
zwo geliebten Leichen zween Lebende, todtenaͤhnlich,
in ſtummen Todeskummer. Der einzige Laut den
man hoͤrete, war von dem gutherzigen Bauer, der
auf der Bank am Ofen ſitzend, den Kopf an die
Wand gelehnt, innerlich ſchnuckte.
So ſaßen ſie, und der Mittag war vorbey, ohne
daß jemand ſich gereget, oder etwas zu ſich genom-
men haͤtte, als ein Mann in einem großen Reiſerocke
und in einer Reiſekappe vor der Thuͤr vom Pferde
abſtieg, und in die Stube trat. Es war Hierony-
mus, der in ſeinen Geſchaͤften verreiſet geweſen war.
Weil ihn ſein Ruͤckweg durch dieſes Dorf fuͤhrte, ſo
wolte er ſeinen alten Freund den Paſtor beſuchen. Er
fand aber im Pfarrhauſe, anſtatt ſeines Freundes,
den Magiſter Tuffelius und den Superintendenten,
die
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