Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Mariane auf ihrer Seite, lebte sehr glücklich
Die Gräfinn von *** verbannte aus ihrer Gesell-
schaft alle Art von Dienst; sie wollte eine Freundinn
haben. So verflossen die Wintermonathe unter ge-
meinschaftlichen Arbeiten, Lektur und Unterhaltung.
Es ist leicht zu erachten, daß Marianen der Um-
gang mit einer Dame, die so viel Verstand mit so
viel Erfahrung und Weltkenntniß verknüpfte, unge-
mein lehrreich gewesen seyn müsse. Die von der Grä-
finn sehr wohl gewählte Lektur trug das ihrige dazu
bey; und obgleich Mariane dadurch belesener ward,
so wußte sie die Gräfinn doch, durch feinen Scherz, von
der kleinen Thorheit ihre Belesenheit in Gesellschaft
zu zeigen, in kurzem ganz zu heilen.

Die einzige Störung der Reihe von sanften Ver-
gnügungen, in denen Mariane lebte, war das An-
denken an Säuglingen, und vielleicht war eine
solche Störung einem jungen und lebhaften
Frauenzimmer behaglich, weil sie die Einförmigkeit
ihrer Empfindungen mannichfaltiger machte. Sie
dachte sehr| oft an den schnellen Abschied; sie war zu-
weilen ungehalten, daß er ihr keine Nachricht von
sich gebe; dann überlegte sie wieder, daß er ihren
Aufenthalt nicht wissen würde; und indem sie ganz
leise den Gedanken dachte, daß sie an ihn schreiben

könnte,
K 3


Mariane auf ihrer Seite, lebte ſehr gluͤcklich
Die Graͤfinn von *** verbannte aus ihrer Geſell-
ſchaft alle Art von Dienſt; ſie wollte eine Freundinn
haben. So verfloſſen die Wintermonathe unter ge-
meinſchaftlichen Arbeiten, Lektur und Unterhaltung.
Es iſt leicht zu erachten, daß Marianen der Um-
gang mit einer Dame, die ſo viel Verſtand mit ſo
viel Erfahrung und Weltkenntniß verknuͤpfte, unge-
mein lehrreich geweſen ſeyn muͤſſe. Die von der Graͤ-
finn ſehr wohl gewaͤhlte Lektur trug das ihrige dazu
bey; und obgleich Mariane dadurch beleſener ward,
ſo wußte ſie die Graͤfinn doch, durch feinen Scherz, von
der kleinen Thorheit ihre Beleſenheit in Geſellſchaft
zu zeigen, in kurzem ganz zu heilen.

Die einzige Stoͤrung der Reihe von ſanften Ver-
gnuͤgungen, in denen Mariane lebte, war das An-
denken an Saͤuglingen, und vielleicht war eine
ſolche Stoͤrung einem jungen und lebhaften
Frauenzimmer behaglich, weil ſie die Einfoͤrmigkeit
ihrer Empfindungen mannichfaltiger machte. Sie
dachte ſehr| oft an den ſchnellen Abſchied; ſie war zu-
weilen ungehalten, daß er ihr keine Nachricht von
ſich gebe; dann uͤberlegte ſie wieder, daß er ihren
Aufenthalt nicht wiſſen wuͤrde; und indem ſie ganz
leiſe den Gedanken dachte, daß ſie an ihn ſchreiben

koͤnnte,
K 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0155" n="145"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Mariane</hi> auf ihrer Seite, lebte &#x017F;ehr glu&#x0364;cklich<lb/>
Die Gra&#x0364;finn von *** verbannte aus ihrer Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft alle Art von Dien&#x017F;t; &#x017F;ie wollte eine Freundinn<lb/>
haben. So verflo&#x017F;&#x017F;en die Wintermonathe unter ge-<lb/>
mein&#x017F;chaftlichen Arbeiten, Lektur und Unterhaltung.<lb/>
Es i&#x017F;t leicht zu erachten, daß <hi rendition="#fr">Marianen</hi> der Um-<lb/>
gang mit einer Dame, die &#x017F;o viel Ver&#x017F;tand mit &#x017F;o<lb/>
viel Erfahrung und Weltkenntniß verknu&#x0364;pfte, unge-<lb/>
mein lehrreich gewe&#x017F;en &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. Die von der Gra&#x0364;-<lb/>
finn &#x017F;ehr wohl gewa&#x0364;hlte Lektur trug das ihrige dazu<lb/>
bey; und obgleich <hi rendition="#fr">Mariane</hi> dadurch bele&#x017F;ener ward,<lb/>
&#x017F;o wußte &#x017F;ie die Gra&#x0364;finn doch, durch feinen Scherz, von<lb/>
der kleinen Thorheit ihre Bele&#x017F;enheit in Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft<lb/>
zu zeigen, in kurzem ganz zu heilen.</p><lb/>
          <p>Die einzige Sto&#x0364;rung der Reihe von &#x017F;anften Ver-<lb/>
gnu&#x0364;gungen, in denen <hi rendition="#fr">Mariane</hi> lebte, war das An-<lb/>
denken an <hi rendition="#fr">Sa&#x0364;uglingen,</hi> und vielleicht war eine<lb/>
&#x017F;olche Sto&#x0364;rung einem jungen und lebhaften<lb/>
Frauenzimmer behaglich, weil &#x017F;ie die Einfo&#x0364;rmigkeit<lb/>
ihrer Empfindungen mannichfaltiger machte. Sie<lb/>
dachte &#x017F;ehr| oft an den &#x017F;chnellen Ab&#x017F;chied; &#x017F;ie war zu-<lb/>
weilen ungehalten, daß er ihr keine Nachricht von<lb/>
&#x017F;ich gebe; dann u&#x0364;berlegte &#x017F;ie wieder, daß er ihren<lb/>
Aufenthalt nicht wi&#x017F;&#x017F;en wu&#x0364;rde; und indem &#x017F;ie ganz<lb/>
lei&#x017F;e den Gedanken dachte, daß &#x017F;ie an ihn &#x017F;chreiben<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">K 3</fw><fw place="bottom" type="catch">ko&#x0364;nnte,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[145/0155] Mariane auf ihrer Seite, lebte ſehr gluͤcklich Die Graͤfinn von *** verbannte aus ihrer Geſell- ſchaft alle Art von Dienſt; ſie wollte eine Freundinn haben. So verfloſſen die Wintermonathe unter ge- meinſchaftlichen Arbeiten, Lektur und Unterhaltung. Es iſt leicht zu erachten, daß Marianen der Um- gang mit einer Dame, die ſo viel Verſtand mit ſo viel Erfahrung und Weltkenntniß verknuͤpfte, unge- mein lehrreich geweſen ſeyn muͤſſe. Die von der Graͤ- finn ſehr wohl gewaͤhlte Lektur trug das ihrige dazu bey; und obgleich Mariane dadurch beleſener ward, ſo wußte ſie die Graͤfinn doch, durch feinen Scherz, von der kleinen Thorheit ihre Beleſenheit in Geſellſchaft zu zeigen, in kurzem ganz zu heilen. Die einzige Stoͤrung der Reihe von ſanften Ver- gnuͤgungen, in denen Mariane lebte, war das An- denken an Saͤuglingen, und vielleicht war eine ſolche Stoͤrung einem jungen und lebhaften Frauenzimmer behaglich, weil ſie die Einfoͤrmigkeit ihrer Empfindungen mannichfaltiger machte. Sie dachte ſehr| oft an den ſchnellen Abſchied; ſie war zu- weilen ungehalten, daß er ihr keine Nachricht von ſich gebe; dann uͤberlegte ſie wieder, daß er ihren Aufenthalt nicht wiſſen wuͤrde; und indem ſie ganz leiſe den Gedanken dachte, daß ſie an ihn ſchreiben koͤnnte, K 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/155
Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/155>, abgerufen am 21.11.2024.