Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775.sich durch einen verkleideten Kammerdiener trauen zu lassen; seiner Geliebten einen Schlaftrunk zu geben, und sich in ihr Schlafzimmer zu schleichen; im Fuß- boden ihres Zimmers eine Fallthüre machen zu lassen, oder durch einen Kamin hineinzusteigen u. s. w. Weil ihm diese aber sämmtlich nicht gefielen, nahm er seine Zuflucht zur Lesung der Geschichte der Klarissa Har- lowe, um seine Einbildungskraft durch den Charak- ter des Lovelace anzufeuern, einen Charakter, den er beständig äußerst bewundert hatte, und nicht ohne Ursach, da ihm selbst Leibeskräfte und Geisteskräfte zum Guten und zum Bösen fehlten, um ein Love- lace zu seyn. Bey dieser Lektur fiel ihm auf, daß er das, was Lovelacen der Zufall gewährte,*) durch ausdrückliche Anstalt erlangen könnte. Er ließ wirklich eines Morgens, kurz vor Anbruch des Tages, in Marianens Vorzimmer ein Paar Vorhänge und ein Paar Bunde Stroh anzünden, und pochte nach- her mit großem Getöse an ihr Zimmer, um sie aufzu- wecken. Er glaubte gewiß, sie in der allerleichtesten Nachtkleidung zu treffen. Er irrte sich aber; denn Mariane, die von Anfang an sehr mißtrauisch gewe- sen war, hatte, ohne sich auszuziehen, in ihren ge- wöhn- *) S. Geschichte der Klarissa, Deutsche Uebersetzung, 5. Th.
7. Brief, S. 70. u. f. ſich durch einen verkleideten Kammerdiener trauen zu laſſen; ſeiner Geliebten einen Schlaftrunk zu geben, und ſich in ihr Schlafzimmer zu ſchleichen; im Fuß- boden ihres Zimmers eine Fallthuͤre machen zu laſſen, oder durch einen Kamin hineinzuſteigen u. ſ. w. Weil ihm dieſe aber ſaͤmmtlich nicht gefielen, nahm er ſeine Zuflucht zur Leſung der Geſchichte der Klariſſa Har- lowe, um ſeine Einbildungskraft durch den Charak- ter des Lovelace anzufeuern, einen Charakter, den er beſtaͤndig aͤußerſt bewundert hatte, und nicht ohne Urſach, da ihm ſelbſt Leibeskraͤfte und Geiſteskraͤfte zum Guten und zum Boͤſen fehlten, um ein Love- lace zu ſeyn. Bey dieſer Lektur fiel ihm auf, daß er das, was Lovelacen der Zufall gewaͤhrte,*) durch ausdruͤckliche Anſtalt erlangen koͤnnte. Er ließ wirklich eines Morgens, kurz vor Anbruch des Tages, in Marianens Vorzimmer ein Paar Vorhaͤnge und ein Paar Bunde Stroh anzuͤnden, und pochte nach- her mit großem Getoͤſe an ihr Zimmer, um ſie aufzu- wecken. Er glaubte gewiß, ſie in der allerleichteſten Nachtkleidung zu treffen. Er irrte ſich aber; denn Mariane, die von Anfang an ſehr mißtrauiſch gewe- ſen war, hatte, ohne ſich auszuziehen, in ihren ge- woͤhn- *) S. Geſchichte der Klariſſa, Deutſche Ueberſetzung, 5. Th.
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ſich durch einen verkleideten Kammerdiener trauen zu
laſſen; ſeiner Geliebten einen Schlaftrunk zu geben,
und ſich in ihr Schlafzimmer zu ſchleichen; im Fuß-
boden ihres Zimmers eine Fallthuͤre machen zu laſſen,
oder durch einen Kamin hineinzuſteigen u. ſ. w. Weil
ihm dieſe aber ſaͤmmtlich nicht gefielen, nahm er ſeine
Zuflucht zur Leſung der Geſchichte der Klariſſa Har-
lowe, um ſeine Einbildungskraft durch den Charak-
ter des Lovelace anzufeuern, einen Charakter, den
er beſtaͤndig aͤußerſt bewundert hatte, und nicht ohne
Urſach, da ihm ſelbſt Leibeskraͤfte und Geiſteskraͤfte
zum Guten und zum Boͤſen fehlten, um ein Love-
lace zu ſeyn. Bey dieſer Lektur fiel ihm auf, daß
er das, was Lovelacen der Zufall gewaͤhrte, *)
durch ausdruͤckliche Anſtalt erlangen koͤnnte. Er ließ
wirklich eines Morgens, kurz vor Anbruch des Tages,
in Marianens Vorzimmer ein Paar Vorhaͤnge und
ein Paar Bunde Stroh anzuͤnden, und pochte nach-
her mit großem Getoͤſe an ihr Zimmer, um ſie aufzu-
wecken. Er glaubte gewiß, ſie in der allerleichteſten
Nachtkleidung zu treffen. Er irrte ſich aber; denn
Mariane, die von Anfang an ſehr mißtrauiſch gewe-
ſen war, hatte, ohne ſich auszuziehen, in ihren ge-
woͤhn-
*) S. Geſchichte der Klariſſa, Deutſche Ueberſetzung, 5. Th.
7. Brief, S. 70. u. f.
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