Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 3. Berlin u. a., 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



gen waren fast immer niedergeschlagen; doch wenn
sie sie aufhob, war ihr Blick zwar sehr durchdrin-
gend, aber ihre Augen fielen sogleich wieder ehrbar-
lich nieder. Sie trieb keine Kleiderpracht, und gieng
weder in Sammt noch Seide, aber das allerfeinste
Leinen, die ausgesuchtesten Spitzen, die Chitse er-
ster Sorte, obgleich sictsamer Farbe, dienten, eine
sehr zarte Haut und eine volle Wange, zu erhöhen,
die, ohne daß es schien, doch sehr sorgfältig gepflegt
wurden. Sie sprach sehr wenig, eigentlich, weil
sie nicht viel zu sprechen wuste; aber diese Einfalt
diente ihr zu einer frommen Koketterie. Sie schien
aus verschämter Zurückhaltung zu schweigen, indem
sie sanft seufzete, und das Haupt langsam seitwärts
sinken ließ.

Mit diesem jungen Frauenzimmer unterhielt sich
Säugling der Sohn, wenn ihre Mutter seinen
Vater oder er sie besuchte, welches fast wöchentlich
geschahe. Unterdessen die Frau Gertrudtinn mit
Sebaldus über theologische Materien disputirte, wie
sie denn in der Dogmatik, so gut wie in der Polemik,
bewandert war, oder unterdessen sie mit seinem Va-
ter die Materie von Hypotheken und Pfandbriefen
abhandelte; pflegte Säugling mit der Jungfer
Anastasia die süssen Gedanken zu theilen, die wie

Honig
H 4



gen waren faſt immer niedergeſchlagen; doch wenn
ſie ſie aufhob, war ihr Blick zwar ſehr durchdrin-
gend, aber ihre Augen fielen ſogleich wieder ehrbar-
lich nieder. Sie trieb keine Kleiderpracht, und gieng
weder in Sammt noch Seide, aber das allerfeinſte
Leinen, die ausgeſuchteſten Spitzen, die Chitſe er-
ſter Sorte, obgleich ſictſamer Farbe, dienten, eine
ſehr zarte Haut und eine volle Wange, zu erhoͤhen,
die, ohne daß es ſchien, doch ſehr ſorgfaͤltig gepflegt
wurden. Sie ſprach ſehr wenig, eigentlich, weil
ſie nicht viel zu ſprechen wuſte; aber dieſe Einfalt
diente ihr zu einer frommen Koketterie. Sie ſchien
aus verſchaͤmter Zuruͤckhaltung zu ſchweigen, indem
ſie ſanft ſeufzete, und das Haupt langſam ſeitwaͤrts
ſinken ließ.

Mit dieſem jungen Frauenzimmer unterhielt ſich
Saͤugling der Sohn, wenn ihre Mutter ſeinen
Vater oder er ſie beſuchte, welches faſt woͤchentlich
geſchahe. Unterdeſſen die Frau Gertrudtinn mit
Sebaldus uͤber theologiſche Materien diſputirte, wie
ſie denn in der Dogmatik, ſo gut wie in der Polemik,
bewandert war, oder unterdeſſen ſie mit ſeinem Va-
ter die Materie von Hypotheken und Pfandbriefen
abhandelte; pflegte Saͤugling mit der Jungfer
Anaſtaſia die ſuͤſſen Gedanken zu theilen, die wie

Honig
H 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0127" n="117[116]"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
gen waren fa&#x017F;t immer niederge&#x017F;chlagen; doch wenn<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ie aufhob, war ihr Blick zwar &#x017F;ehr durchdrin-<lb/>
gend, aber ihre Augen fielen &#x017F;ogleich wieder ehrbar-<lb/>
lich nieder. Sie trieb keine Kleiderpracht, und gieng<lb/>
weder in Sammt noch Seide, aber das allerfein&#x017F;te<lb/>
Leinen, die ausge&#x017F;uchte&#x017F;ten Spitzen, die Chit&#x017F;e er-<lb/>
&#x017F;ter Sorte, obgleich &#x017F;ict&#x017F;amer Farbe, dienten, eine<lb/>
&#x017F;ehr zarte Haut und eine volle Wange, zu erho&#x0364;hen,<lb/>
die, ohne daß es &#x017F;chien, doch &#x017F;ehr &#x017F;orgfa&#x0364;ltig gepflegt<lb/>
wurden. Sie &#x017F;prach &#x017F;ehr wenig, eigentlich, weil<lb/>
&#x017F;ie nicht viel zu &#x017F;prechen wu&#x017F;te; aber die&#x017F;e Einfalt<lb/>
diente ihr zu einer frommen Koketterie. Sie &#x017F;chien<lb/>
aus ver&#x017F;cha&#x0364;mter Zuru&#x0364;ckhaltung zu &#x017F;chweigen, indem<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;anft &#x017F;eufzete, und das Haupt lang&#x017F;am &#x017F;eitwa&#x0364;rts<lb/>
&#x017F;inken ließ.</p><lb/>
          <p>Mit die&#x017F;em jungen Frauenzimmer unterhielt &#x017F;ich<lb/><hi rendition="#fr">Sa&#x0364;ugling</hi> der Sohn, wenn ihre Mutter &#x017F;einen<lb/>
Vater oder er &#x017F;ie be&#x017F;uchte, welches fa&#x017F;t wo&#x0364;chentlich<lb/>
ge&#x017F;chahe. Unterde&#x017F;&#x017F;en die Frau <hi rendition="#fr">Gertrudtinn</hi> mit<lb/><hi rendition="#fr">Sebaldus</hi> u&#x0364;ber theologi&#x017F;che Materien di&#x017F;putirte, wie<lb/>
&#x017F;ie denn in der Dogmatik, &#x017F;o gut wie in der Polemik,<lb/>
bewandert war, oder unterde&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie mit &#x017F;einem Va-<lb/>
ter die Materie von Hypotheken und Pfandbriefen<lb/>
abhandelte; pflegte <hi rendition="#fr">Sa&#x0364;ugling</hi> mit der Jungfer<lb/><hi rendition="#fr">Ana&#x017F;ta&#x017F;ia</hi> die &#x017F;u&#x0364;&#x017F;&#x017F;en Gedanken zu theilen, die wie<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 4</fw><fw place="bottom" type="catch">Honig</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[117[116]/0127] gen waren faſt immer niedergeſchlagen; doch wenn ſie ſie aufhob, war ihr Blick zwar ſehr durchdrin- gend, aber ihre Augen fielen ſogleich wieder ehrbar- lich nieder. Sie trieb keine Kleiderpracht, und gieng weder in Sammt noch Seide, aber das allerfeinſte Leinen, die ausgeſuchteſten Spitzen, die Chitſe er- ſter Sorte, obgleich ſictſamer Farbe, dienten, eine ſehr zarte Haut und eine volle Wange, zu erhoͤhen, die, ohne daß es ſchien, doch ſehr ſorgfaͤltig gepflegt wurden. Sie ſprach ſehr wenig, eigentlich, weil ſie nicht viel zu ſprechen wuſte; aber dieſe Einfalt diente ihr zu einer frommen Koketterie. Sie ſchien aus verſchaͤmter Zuruͤckhaltung zu ſchweigen, indem ſie ſanft ſeufzete, und das Haupt langſam ſeitwaͤrts ſinken ließ. Mit dieſem jungen Frauenzimmer unterhielt ſich Saͤugling der Sohn, wenn ihre Mutter ſeinen Vater oder er ſie beſuchte, welches faſt woͤchentlich geſchahe. Unterdeſſen die Frau Gertrudtinn mit Sebaldus uͤber theologiſche Materien diſputirte, wie ſie denn in der Dogmatik, ſo gut wie in der Polemik, bewandert war, oder unterdeſſen ſie mit ſeinem Va- ter die Materie von Hypotheken und Pfandbriefen abhandelte; pflegte Saͤugling mit der Jungfer Anaſtaſia die ſuͤſſen Gedanken zu theilen, die wie Honig H 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776/127
Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 3. Berlin u. a., 1776, S. 117[116]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776/127>, abgerufen am 24.11.2024.