lich die Jahrbücher der Pontifices dafür an: aber wenn man auch zugeben will, daß diese über die älteste Sagen redeten, und zu der Zeit als er schrieb nicht schon längst, vernachlässigt, ganz verschwunden waren: daß ein Schrift- steller des vierten Jahrhunderts unsrer Zeitrechnung sie hätte lesen können; welches alles höchst unwahrscheinlich ist: so trägt doch sein ganzes Werk das Gepräge betrüge- rischer Erdichtung, indem Schriften darin angeführt sind, wovon mit der größten Zuverlässigkeit versichert werden kann, daß sie nie vorhanden waren. Wäre dieser Victor glaubwürdiger, so würde durch die von ihm aus Cassius Hemina angeführte Erzählung klar seyn, daß der Kampf mit Kakus in einheimischer Sage von einem wandernden Helden Recaranus erzählt war 48): aber auch dieses Zu- trauen wäre wohl unverdient, obgleich jener Annalist in den Händen noch späterer Grammatiker gewesen ist, welche die pontificischen Jahrbücher nie anführen. Der angeb- liche uralte und allgemeine Dienst des Herakles in Italien, wodurch Dionysius das Mährchen, und die Behauptung griechisches Ursprungs der Römer beglaubigen will, ist sicher Irrthum, gegründet auf Verwechselung des Sohns der Alkmene mit dem Sabinischen Dämon Sancus, den die römischen Spracherklärer auf Herakles deuten 49), und dessen Verehrung nothwendig bey allen Sabellischen Nationen in ganz Süditalien herrschte. Auf den griechi- schen Heros haben sie die Römer zuverlässig erst sehr spät
48) Victor de orig. gent. Rom. c. 6.
49) Oder Dius Fidius. Aelius Gallus bey Varro de ling. lat. IV. c. 10.
lich die Jahrbuͤcher der Pontifices dafuͤr an: aber wenn man auch zugeben will, daß dieſe uͤber die aͤlteſte Sagen redeten, und zu der Zeit als er ſchrieb nicht ſchon laͤngſt, vernachlaͤſſigt, ganz verſchwunden waren: daß ein Schrift- ſteller des vierten Jahrhunderts unſrer Zeitrechnung ſie haͤtte leſen koͤnnen; welches alles hoͤchſt unwahrſcheinlich iſt: ſo traͤgt doch ſein ganzes Werk das Gepraͤge betruͤge- riſcher Erdichtung, indem Schriften darin angefuͤhrt ſind, wovon mit der groͤßten Zuverlaͤſſigkeit verſichert werden kann, daß ſie nie vorhanden waren. Waͤre dieſer Victor glaubwuͤrdiger, ſo wuͤrde durch die von ihm aus Caſſius Hemina angefuͤhrte Erzaͤhlung klar ſeyn, daß der Kampf mit Kakus in einheimiſcher Sage von einem wandernden Helden Recaranus erzaͤhlt war 48): aber auch dieſes Zu- trauen waͤre wohl unverdient, obgleich jener Annaliſt in den Haͤnden noch ſpaͤterer Grammatiker geweſen iſt, welche die pontificiſchen Jahrbuͤcher nie anfuͤhren. Der angeb- liche uralte und allgemeine Dienſt des Herakles in Italien, wodurch Dionyſius das Maͤhrchen, und die Behauptung griechiſches Urſprungs der Roͤmer beglaubigen will, iſt ſicher Irrthum, gegruͤndet auf Verwechſelung des Sohns der Alkmene mit dem Sabiniſchen Daͤmon Sancus, den die roͤmiſchen Spracherklaͤrer auf Herakles deuten 49), und deſſen Verehrung nothwendig bey allen Sabelliſchen Nationen in ganz Suͤditalien herrſchte. Auf den griechi- ſchen Heros haben ſie die Roͤmer zuverlaͤſſig erſt ſehr ſpaͤt
48) Victor de orig. gent. Rom. c. 6.
49) Oder Dius Fidius. Aelius Gallus bey Varro de ling. lat. IV. c. 10.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0145"n="123"/>
lich die Jahrbuͤcher der Pontifices dafuͤr an: aber wenn<lb/>
man auch zugeben will, daß dieſe uͤber die aͤlteſte Sagen<lb/>
redeten, und zu der Zeit als er ſchrieb nicht ſchon laͤngſt,<lb/>
vernachlaͤſſigt, ganz verſchwunden waren: daß ein Schrift-<lb/>ſteller des vierten Jahrhunderts unſrer Zeitrechnung ſie<lb/>
haͤtte leſen koͤnnen; welches alles hoͤchſt unwahrſcheinlich<lb/>
iſt: ſo traͤgt doch ſein ganzes Werk das Gepraͤge betruͤge-<lb/>
riſcher Erdichtung, indem Schriften darin angefuͤhrt ſind,<lb/>
wovon mit der groͤßten Zuverlaͤſſigkeit verſichert werden<lb/>
kann, daß ſie nie vorhanden waren. Waͤre dieſer Victor<lb/>
glaubwuͤrdiger, ſo wuͤrde durch die von ihm aus Caſſius<lb/>
Hemina angefuͤhrte Erzaͤhlung klar ſeyn, daß der Kampf<lb/>
mit Kakus in einheimiſcher Sage von einem wandernden<lb/>
Helden Recaranus erzaͤhlt war <noteplace="foot"n="48)">Victor <hirendition="#aq">de orig. gent. Rom. c.</hi> 6.</note>: aber auch dieſes Zu-<lb/>
trauen waͤre wohl unverdient, obgleich jener Annaliſt in<lb/>
den Haͤnden noch ſpaͤterer Grammatiker geweſen iſt, welche<lb/>
die pontificiſchen Jahrbuͤcher nie anfuͤhren. Der angeb-<lb/>
liche uralte und allgemeine Dienſt des Herakles in Italien,<lb/>
wodurch Dionyſius das Maͤhrchen, und die Behauptung<lb/>
griechiſches Urſprungs der Roͤmer beglaubigen will, iſt<lb/>ſicher Irrthum, gegruͤndet auf Verwechſelung des Sohns<lb/>
der Alkmene mit dem Sabiniſchen Daͤmon Sancus, den<lb/>
die roͤmiſchen Spracherklaͤrer auf Herakles deuten <noteplace="foot"n="49)">Oder <hirendition="#aq">Dius Fidius.</hi> Aelius Gallus bey Varro <hirendition="#aq">de ling. lat.<lb/>
IV. c.</hi> 10.</note>,<lb/>
und deſſen Verehrung nothwendig bey allen Sabelliſchen<lb/>
Nationen in ganz Suͤditalien herrſchte. Auf den griechi-<lb/>ſchen Heros haben ſie die Roͤmer zuverlaͤſſig erſt ſehr ſpaͤt<lb/></p></div></body></text></TEI>
[123/0145]
lich die Jahrbuͤcher der Pontifices dafuͤr an: aber wenn
man auch zugeben will, daß dieſe uͤber die aͤlteſte Sagen
redeten, und zu der Zeit als er ſchrieb nicht ſchon laͤngſt,
vernachlaͤſſigt, ganz verſchwunden waren: daß ein Schrift-
ſteller des vierten Jahrhunderts unſrer Zeitrechnung ſie
haͤtte leſen koͤnnen; welches alles hoͤchſt unwahrſcheinlich
iſt: ſo traͤgt doch ſein ganzes Werk das Gepraͤge betruͤge-
riſcher Erdichtung, indem Schriften darin angefuͤhrt ſind,
wovon mit der groͤßten Zuverlaͤſſigkeit verſichert werden
kann, daß ſie nie vorhanden waren. Waͤre dieſer Victor
glaubwuͤrdiger, ſo wuͤrde durch die von ihm aus Caſſius
Hemina angefuͤhrte Erzaͤhlung klar ſeyn, daß der Kampf
mit Kakus in einheimiſcher Sage von einem wandernden
Helden Recaranus erzaͤhlt war 48): aber auch dieſes Zu-
trauen waͤre wohl unverdient, obgleich jener Annaliſt in
den Haͤnden noch ſpaͤterer Grammatiker geweſen iſt, welche
die pontificiſchen Jahrbuͤcher nie anfuͤhren. Der angeb-
liche uralte und allgemeine Dienſt des Herakles in Italien,
wodurch Dionyſius das Maͤhrchen, und die Behauptung
griechiſches Urſprungs der Roͤmer beglaubigen will, iſt
ſicher Irrthum, gegruͤndet auf Verwechſelung des Sohns
der Alkmene mit dem Sabiniſchen Daͤmon Sancus, den
die roͤmiſchen Spracherklaͤrer auf Herakles deuten 49),
und deſſen Verehrung nothwendig bey allen Sabelliſchen
Nationen in ganz Suͤditalien herrſchte. Auf den griechi-
ſchen Heros haben ſie die Roͤmer zuverlaͤſſig erſt ſehr ſpaͤt
48) Victor de orig. gent. Rom. c. 6.
49) Oder Dius Fidius. Aelius Gallus bey Varro de ling. lat.
IV. c. 10.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/145>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.