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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

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scheint die Form worin sie bestanden und ein großer Theil
ihres Inhalts, doch viel jünger als die ersten Zeiten der
Republik. Wie die pontificischen Annalen die Geschichte
für die Patricier verfälschten, so herrscht in dieser ganzen
Dichtung plebejischer Sinn, Haß gegen die Patricier, und
sichtbare Spuren daß als sie geschrieben wurden mehrere
plebejische Geschlechter schon groß und mächtig waren.
Numas, Tullus und Servius Landanweisungen sind in
diesem Sinn: alle Lieblingskönige begünstigen das Volk
gegen die Patricier; Romulus wie Servius: als Mit-
schuldige an Servius Ermordung erscheinen diese gräßlich
und verhaßt; der plebejische Servius ist idealisch vortreff-
lich: der Gründer der Republik ist Plebejer: Tarqui-
nius, des alten, römische Gattinn Gaja Cäcilia Plebeje-
rinn, den Metellern verwandt: Mucius Scävola ist Plebe-
jer: unter den Patriciern stehen nur die Valerier und Ho-
ratier schön da; des Volks befreundete Geschlechter. Da-
her möchte ich diese Gedichte, wie wir ihren Inhalt kennen,
nicht über das Ende des vierten Jahrhunderts, und dieses
als den frühesten Zeitpunkt, hinaufsetzen. Auf diese Zeit
deutet auch die Befragung des pythischen Orakels. Die Er-
zählung wie der letzte König seinen Sohn symbolisch ange-
wiesen habe die vornehmen Gabiner fortzuschaffen ist ein
griechisches Mährchen bey Herodot: also muß man schon
einige Kenntniß griechischer Sagen voraussetzen, wenn
auch nicht unmittelbar des Herodot 28).


28) Bey den Leichenbegängnissen wurden historische Lieder zur
Flöte gesungen: die Nenien. Cicero de legibus II. c. 24. Es
muß sich damit verhalten haben wie mit den Gedächtnißreden:
der Stoff war alt, aber die Form bildete sich um.

ſcheint die Form worin ſie beſtanden und ein großer Theil
ihres Inhalts, doch viel juͤnger als die erſten Zeiten der
Republik. Wie die pontificiſchen Annalen die Geſchichte
fuͤr die Patricier verfaͤlſchten, ſo herrſcht in dieſer ganzen
Dichtung plebejiſcher Sinn, Haß gegen die Patricier, und
ſichtbare Spuren daß als ſie geſchrieben wurden mehrere
plebejiſche Geſchlechter ſchon groß und maͤchtig waren.
Numas, Tullus und Servius Landanweiſungen ſind in
dieſem Sinn: alle Lieblingskoͤnige beguͤnſtigen das Volk
gegen die Patricier; Romulus wie Servius: als Mit-
ſchuldige an Servius Ermordung erſcheinen dieſe graͤßlich
und verhaßt; der plebejiſche Servius iſt idealiſch vortreff-
lich: der Gruͤnder der Republik iſt Plebejer: Tarqui-
nius, des alten, roͤmiſche Gattinn Gaja Caͤcilia Plebeje-
rinn, den Metellern verwandt: Mucius Scaͤvola iſt Plebe-
jer: unter den Patriciern ſtehen nur die Valerier und Ho-
ratier ſchoͤn da; des Volks befreundete Geſchlechter. Da-
her moͤchte ich dieſe Gedichte, wie wir ihren Inhalt kennen,
nicht uͤber das Ende des vierten Jahrhunderts, und dieſes
als den fruͤheſten Zeitpunkt, hinaufſetzen. Auf dieſe Zeit
deutet auch die Befragung des pythiſchen Orakels. Die Er-
zaͤhlung wie der letzte Koͤnig ſeinen Sohn ſymboliſch ange-
wieſen habe die vornehmen Gabiner fortzuſchaffen iſt ein
griechiſches Maͤhrchen bey Herodot: alſo muß man ſchon
einige Kenntniß griechiſcher Sagen vorausſetzen, wenn
auch nicht unmittelbar des Herodot 28).


28) Bey den Leichenbegaͤngniſſen wurden hiſtoriſche Lieder zur
Floͤte geſungen: die Nenien. Cicero de legibus II. c. 24. Es
muß ſich damit verhalten haben wie mit den Gedaͤchtnißreden:
der Stoff war alt, aber die Form bildete ſich um.
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[180/0202] ſcheint die Form worin ſie beſtanden und ein großer Theil ihres Inhalts, doch viel juͤnger als die erſten Zeiten der Republik. Wie die pontificiſchen Annalen die Geſchichte fuͤr die Patricier verfaͤlſchten, ſo herrſcht in dieſer ganzen Dichtung plebejiſcher Sinn, Haß gegen die Patricier, und ſichtbare Spuren daß als ſie geſchrieben wurden mehrere plebejiſche Geſchlechter ſchon groß und maͤchtig waren. Numas, Tullus und Servius Landanweiſungen ſind in dieſem Sinn: alle Lieblingskoͤnige beguͤnſtigen das Volk gegen die Patricier; Romulus wie Servius: als Mit- ſchuldige an Servius Ermordung erſcheinen dieſe graͤßlich und verhaßt; der plebejiſche Servius iſt idealiſch vortreff- lich: der Gruͤnder der Republik iſt Plebejer: Tarqui- nius, des alten, roͤmiſche Gattinn Gaja Caͤcilia Plebeje- rinn, den Metellern verwandt: Mucius Scaͤvola iſt Plebe- jer: unter den Patriciern ſtehen nur die Valerier und Ho- ratier ſchoͤn da; des Volks befreundete Geſchlechter. Da- her moͤchte ich dieſe Gedichte, wie wir ihren Inhalt kennen, nicht uͤber das Ende des vierten Jahrhunderts, und dieſes als den fruͤheſten Zeitpunkt, hinaufſetzen. Auf dieſe Zeit deutet auch die Befragung des pythiſchen Orakels. Die Er- zaͤhlung wie der letzte Koͤnig ſeinen Sohn ſymboliſch ange- wieſen habe die vornehmen Gabiner fortzuſchaffen iſt ein griechiſches Maͤhrchen bey Herodot: alſo muß man ſchon einige Kenntniß griechiſcher Sagen vorausſetzen, wenn auch nicht unmittelbar des Herodot 28). 28) Bey den Leichenbegaͤngniſſen wurden hiſtoriſche Lieder zur Floͤte geſungen: die Nenien. Cicero de legibus II. c. 24. Es muß ſich damit verhalten haben wie mit den Gedaͤchtnißreden: der Stoff war alt, aber die Form bildete ſich um.

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Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/202>, abgerufen am 21.11.2024.