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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

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Servius war Roms Heinrich, aber die Könige Roms
stehen in der alten Sage ganz allein, ohne daß irgend
eines Mannes unter ihren Unterthanen namentlich gedacht
wird; und so wissen wir nicht ob er, wenn jene herrlichen
Gesetze, die sein heißen, sein Werk waren, allein han-
delte, oder wie Heinrich einen Freund und einen Rathge-
ber hatte.

Die Sage erzählt ein Wunder, wodurch die Natur
ihren Abscheu gegen Tullias Ausartung kund gethan habe:
sie soll es gewagt haben den Tempel der Fortuna zu besu-
chen worin jene verehrte Statue ihres Vaters aufgestellt
war: als sie in den Tempel getreten, habe die Statue ihr
Antlitz mit der Hand verdeckt 64).

Aber wie allgemein auch die Erzählung von Tullias
gehäuften Verbrechen ist, und obgleich wir schon der histo-
rischen Zeit immer näher kommen, doch glaube ich ist es
erlaubt zu zweifeln ob sie nicht für Sünden welche ihr
das verdiente Schicksal zuzogen daß jedes Verbrechen des-
sen sie beschuldigt ward glaublich schien, dadurch gestraft
worden ist daß ihr noch schwärzere als sie beging angeschul-
digt wurden. Gegen sehr große Verörecher scheint Wahr-
haftigkeit und Gerechtigkeit nicht mehr Pflicht, und eine
Sage die mit Bewußtseyn der Uebertreibung anfängt wird
im nächsten Menschenalter geglaubt wenn sie allgemein er-
zählt worden ist. Daß sich eine Verschwörung gegen Tul-
lius bildete ist sehr glaublich, daß er sein Leben im Auf-
ruhr verlohr scheint gewiß zu seyn; aber Sage gegen Sage
können wir doch eben so wohl glauben daß seiner Leiche die

64) Ovidius Fast. VI. v. 613.

Servius war Roms Heinrich, aber die Koͤnige Roms
ſtehen in der alten Sage ganz allein, ohne daß irgend
eines Mannes unter ihren Unterthanen namentlich gedacht
wird; und ſo wiſſen wir nicht ob er, wenn jene herrlichen
Geſetze, die ſein heißen, ſein Werk waren, allein han-
delte, oder wie Heinrich einen Freund und einen Rathge-
ber hatte.

Die Sage erzaͤhlt ein Wunder, wodurch die Natur
ihren Abſcheu gegen Tullias Ausartung kund gethan habe:
ſie ſoll es gewagt haben den Tempel der Fortuna zu beſu-
chen worin jene verehrte Statue ihres Vaters aufgeſtellt
war: als ſie in den Tempel getreten, habe die Statue ihr
Antlitz mit der Hand verdeckt 64).

Aber wie allgemein auch die Erzaͤhlung von Tullias
gehaͤuften Verbrechen iſt, und obgleich wir ſchon der hiſto-
riſchen Zeit immer naͤher kommen, doch glaube ich iſt es
erlaubt zu zweifeln ob ſie nicht fuͤr Suͤnden welche ihr
das verdiente Schickſal zuzogen daß jedes Verbrechen deſ-
ſen ſie beſchuldigt ward glaublich ſchien, dadurch geſtraft
worden iſt daß ihr noch ſchwaͤrzere als ſie beging angeſchul-
digt wurden. Gegen ſehr große Veroͤrecher ſcheint Wahr-
haftigkeit und Gerechtigkeit nicht mehr Pflicht, und eine
Sage die mit Bewußtſeyn der Uebertreibung anfaͤngt wird
im naͤchſten Menſchenalter geglaubt wenn ſie allgemein er-
zaͤhlt worden iſt. Daß ſich eine Verſchwoͤrung gegen Tul-
lius bildete iſt ſehr glaublich, daß er ſein Leben im Auf-
ruhr verlohr ſcheint gewiß zu ſeyn; aber Sage gegen Sage
koͤnnen wir doch eben ſo wohl glauben daß ſeiner Leiche die

64) Ovidius Fast. VI. v. 613.
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[293/0315] Servius war Roms Heinrich, aber die Koͤnige Roms ſtehen in der alten Sage ganz allein, ohne daß irgend eines Mannes unter ihren Unterthanen namentlich gedacht wird; und ſo wiſſen wir nicht ob er, wenn jene herrlichen Geſetze, die ſein heißen, ſein Werk waren, allein han- delte, oder wie Heinrich einen Freund und einen Rathge- ber hatte. Die Sage erzaͤhlt ein Wunder, wodurch die Natur ihren Abſcheu gegen Tullias Ausartung kund gethan habe: ſie ſoll es gewagt haben den Tempel der Fortuna zu beſu- chen worin jene verehrte Statue ihres Vaters aufgeſtellt war: als ſie in den Tempel getreten, habe die Statue ihr Antlitz mit der Hand verdeckt 64). Aber wie allgemein auch die Erzaͤhlung von Tullias gehaͤuften Verbrechen iſt, und obgleich wir ſchon der hiſto- riſchen Zeit immer naͤher kommen, doch glaube ich iſt es erlaubt zu zweifeln ob ſie nicht fuͤr Suͤnden welche ihr das verdiente Schickſal zuzogen daß jedes Verbrechen deſ- ſen ſie beſchuldigt ward glaublich ſchien, dadurch geſtraft worden iſt daß ihr noch ſchwaͤrzere als ſie beging angeſchul- digt wurden. Gegen ſehr große Veroͤrecher ſcheint Wahr- haftigkeit und Gerechtigkeit nicht mehr Pflicht, und eine Sage die mit Bewußtſeyn der Uebertreibung anfaͤngt wird im naͤchſten Menſchenalter geglaubt wenn ſie allgemein er- zaͤhlt worden iſt. Daß ſich eine Verſchwoͤrung gegen Tul- lius bildete iſt ſehr glaublich, daß er ſein Leben im Auf- ruhr verlohr ſcheint gewiß zu ſeyn; aber Sage gegen Sage koͤnnen wir doch eben ſo wohl glauben daß ſeiner Leiche die 64) Ovidius Fast. VI. v. 613.

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Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/315>, abgerufen am 22.11.2024.