seiner großen und gerechten Ansprüche nie zum äußersten getrieben worden; und nichts wäre leichter gewesen als durch eine wohlthätige Gesetzgebung ihn ganz zu ent- waffnen. Das Volk beweinte ihn, und Pest und Miß- wachs, die seinem Tode folgten, schienen, indem sie das Elend vermehrten, auch Rache des Himmels über seine Verurtheilung zu seyn.
Ein sonderbares Spiel des Schicksals hat für viele Völker Jahrhunderte hindurch jenen dichterischen Glanz, den die alte Sage für Camillus schuf, auf seinen unglück- lichen Nebenbuhler übertragen. Johannes Malalas er- zählt, aus einem Brunichius, vom Mallio Capitolinus, wie er von boshaften Feinden aus Rom verbannt, sich auf seine Güter bey Apuleja zurückgezogen. Aber nach der Einnahme der Stadt habe ihn der reuige Senat zum Feldherrn erwählt: er habe die Legionen aus den Be- satzungen zusammengezogen: mit ihnen das Capitol ent- setzt: Brennus mit eigner Hand erschlagen: sey darauf zum Oberherrn ernannt, und habe seinen Erzfeind, den verrätherischen, aus gallischem Geschlecht abstammenden Senator Februarius verjagt 28). Diese Erzählung hat Cedrenus aus ihm entlehnt, und es ist kein Zweifel daß sie, eine sehr kleine Zahl historisch Gelehrter ausgenom- men, vom sechsten Jahrhundert an im byzantinischen Orient allgemein geglaubt wurde.
Mit dem Verfall des westlichen Reichs erscheinen schon Spuren einer völligen Entstellung der alten Ge- schichte in der volksmäßigen Erzählung. Die Nahmen
28) Malalas Chronogr. VII. p. 233 -- 239.
ſeiner großen und gerechten Anſpruͤche nie zum aͤußerſten getrieben worden; und nichts waͤre leichter geweſen als durch eine wohlthaͤtige Geſetzgebung ihn ganz zu ent- waffnen. Das Volk beweinte ihn, und Peſt und Miß- wachs, die ſeinem Tode folgten, ſchienen, indem ſie das Elend vermehrten, auch Rache des Himmels uͤber ſeine Verurtheilung zu ſeyn.
Ein ſonderbares Spiel des Schickſals hat fuͤr viele Voͤlker Jahrhunderte hindurch jenen dichteriſchen Glanz, den die alte Sage fuͤr Camillus ſchuf, auf ſeinen ungluͤck- lichen Nebenbuhler uͤbertragen. Johannes Malalas er- zaͤhlt, aus einem Brunichius, vom Mallio Capitolinus, wie er von boshaften Feinden aus Rom verbannt, ſich auf ſeine Guͤter bey Apuleja zuruͤckgezogen. Aber nach der Einnahme der Stadt habe ihn der reuige Senat zum Feldherrn erwaͤhlt: er habe die Legionen aus den Be- ſatzungen zuſammengezogen: mit ihnen das Capitol ent- ſetzt: Brennus mit eigner Hand erſchlagen: ſey darauf zum Oberherrn ernannt, und habe ſeinen Erzfeind, den verraͤtheriſchen, aus galliſchem Geſchlecht abſtammenden Senator Februarius verjagt 28). Dieſe Erzaͤhlung hat Cedrenus aus ihm entlehnt, und es iſt kein Zweifel daß ſie, eine ſehr kleine Zahl hiſtoriſch Gelehrter ausgenom- men, vom ſechſten Jahrhundert an im byzantiniſchen Orient allgemein geglaubt wurde.
Mit dem Verfall des weſtlichen Reichs erſcheinen ſchon Spuren einer voͤlligen Entſtellung der alten Ge- ſchichte in der volksmaͤßigen Erzaͤhlung. Die Nahmen
28) Malalas Chronogr. VII. p. 233 — 239.
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das Elend vermehrten, auch Rache des Himmels uͤber
ſeine Verurtheilung zu ſeyn.
Ein ſonderbares Spiel des Schickſals hat fuͤr viele
Voͤlker Jahrhunderte hindurch jenen dichteriſchen Glanz,
den die alte Sage fuͤr Camillus ſchuf, auf ſeinen ungluͤck-
lichen Nebenbuhler uͤbertragen. Johannes Malalas er-
zaͤhlt, aus einem Brunichius, vom Mallio Capitolinus,
wie er von boshaften Feinden aus Rom verbannt, ſich auf
ſeine Guͤter bey Apuleja zuruͤckgezogen. Aber nach der
Einnahme der Stadt habe ihn der reuige Senat zum
Feldherrn erwaͤhlt: er habe die Legionen aus den Be-
ſatzungen zuſammengezogen: mit ihnen das Capitol ent-
ſetzt: Brennus mit eigner Hand erſchlagen: ſey darauf
zum Oberherrn ernannt, und habe ſeinen Erzfeind, den
verraͤtheriſchen, aus galliſchem Geſchlecht abſtammenden
Senator Februarius verjagt 28). Dieſe Erzaͤhlung hat
Cedrenus aus ihm entlehnt, und es iſt kein Zweifel daß
ſie, eine ſehr kleine Zahl hiſtoriſch Gelehrter ausgenom-
men, vom ſechſten Jahrhundert an im byzantiniſchen Orient
allgemein geglaubt wurde.
Mit dem Verfall des weſtlichen Reichs erſcheinen
ſchon Spuren einer voͤlligen Entſtellung der alten Ge-
ſchichte in der volksmaͤßigen Erzaͤhlung. Die Nahmen
28) Malalas Chronogr. VII. p. 233 — 239.
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/347>, abgerufen am 22.11.2024.
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