Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

sind erhalten, aber sie dienen als Substrat immer will-
kührlicherer Fabeln: wie im Mittelalter ahndete man schon
nicht mehr daß auf dem Boden den man betrat einst eine
ganz andre Welt lebte; und was man von ihr hörte begriff
keiner: Republik und alte Ordnungen waren todte Worte.
Die großen Nahmen lebten fort mit einer inneren Unsterb-
lichkeit, aber die Phantasie spielte wild mit ihnen, wie
die eines Kindes, oder wie sich die Geschichte und Geo-
graphie in Ritterromanen gestaltet. So war Hannibal in
der Tradition Roms im zwölften Jahrhundert ein römi-
scher Feldherr, von dem eine Familie der Stadt ihr Ge-
schlecht ableitete. Es sind mehrere Schriften erhalten
welche diese sonderbaren Träume darstellen; sie werden als
sinnlos verachtet, und sind doch merkwürdig; an einem
andern Ort werde ich von ihnen ausführlicher reden.
Malalas kennt die römische Geschichte vor August nur so:
er erzählt wie Romulus die Factionen des Circus ge-
stiftet, und Brutus den befreyten Knecht Vindicius zum
Comes ernannt habe. Wilikührliche Erfindungen von
ihm sind diese Erzählungen nicht; und Brunichius ist kein
erdichteter Nahme, obgleich sonst keiner ihn nennt.

Ein Römer war dieser gewiß auch nicht. Der Nah-
me Brunich ist offenbar gothisch, wie Wittich, und nichts
ist begreiflicher als daß die germanischen Ansiedler in Ita-
lien die einheimischen Geschichten, die wieder zu Sagen
geworden waren, theils unvollkommen auffaßten, theils
mit derselben Freyheit behandelten wie sie es an ihren
ererbten gewohnt waren. Auch war dies wahrlich
harmlos, und den abgeschiedenen Geistern willkomme-

ſind erhalten, aber ſie dienen als Subſtrat immer will-
kuͤhrlicherer Fabeln: wie im Mittelalter ahndete man ſchon
nicht mehr daß auf dem Boden den man betrat einſt eine
ganz andre Welt lebte; und was man von ihr hoͤrte begriff
keiner: Republik und alte Ordnungen waren todte Worte.
Die großen Nahmen lebten fort mit einer inneren Unſterb-
lichkeit, aber die Phantaſie ſpielte wild mit ihnen, wie
die eines Kindes, oder wie ſich die Geſchichte und Geo-
graphie in Ritterromanen geſtaltet. So war Hannibal in
der Tradition Roms im zwoͤlften Jahrhundert ein roͤmi-
ſcher Feldherr, von dem eine Familie der Stadt ihr Ge-
ſchlecht ableitete. Es ſind mehrere Schriften erhalten
welche dieſe ſonderbaren Traͤume darſtellen; ſie werden als
ſinnlos verachtet, und ſind doch merkwuͤrdig; an einem
andern Ort werde ich von ihnen ausfuͤhrlicher reden.
Malalas kennt die roͤmiſche Geſchichte vor Auguſt nur ſo:
er erzaͤhlt wie Romulus die Factionen des Circus ge-
ſtiftet, und Brutus den befreyten Knecht Vindicius zum
Comes ernannt habe. Wilikuͤhrliche Erfindungen von
ihm ſind dieſe Erzaͤhlungen nicht; und Brunichius iſt kein
erdichteter Nahme, obgleich ſonſt keiner ihn nennt.

Ein Roͤmer war dieſer gewiß auch nicht. Der Nah-
me Brunich iſt offenbar gothiſch, wie Wittich, und nichts
iſt begreiflicher als daß die germaniſchen Anſiedler in Ita-
lien die einheimiſchen Geſchichten, die wieder zu Sagen
geworden waren, theils unvollkommen auffaßten, theils
mit derſelben Freyheit behandelten wie ſie es an ihren
ererbten gewohnt waren. Auch war dies wahrlich
harmlos, und den abgeſchiedenen Geiſtern willkomme-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0348" n="332"/>
&#x017F;ind erhalten, aber &#x017F;ie dienen als Sub&#x017F;trat immer will-<lb/>
ku&#x0364;hrlicherer Fabeln: wie im Mittelalter ahndete man &#x017F;chon<lb/>
nicht mehr daß auf dem Boden den man betrat ein&#x017F;t eine<lb/>
ganz andre Welt lebte; und was man von ihr ho&#x0364;rte begriff<lb/>
keiner: Republik und alte Ordnungen waren todte Worte.<lb/>
Die großen Nahmen lebten fort mit einer inneren Un&#x017F;terb-<lb/>
lichkeit, aber die Phanta&#x017F;ie &#x017F;pielte wild mit ihnen, wie<lb/>
die eines Kindes, oder wie &#x017F;ich die Ge&#x017F;chichte und Geo-<lb/>
graphie in Ritterromanen ge&#x017F;taltet. So war Hannibal in<lb/>
der Tradition Roms im zwo&#x0364;lften Jahrhundert ein ro&#x0364;mi-<lb/>
&#x017F;cher Feldherr, von dem eine Familie der Stadt ihr Ge-<lb/>
&#x017F;chlecht ableitete. Es &#x017F;ind mehrere Schriften erhalten<lb/>
welche die&#x017F;e &#x017F;onderbaren Tra&#x0364;ume dar&#x017F;tellen; &#x017F;ie werden als<lb/>
&#x017F;innlos verachtet, und &#x017F;ind doch merkwu&#x0364;rdig; an einem<lb/>
andern Ort werde ich von ihnen ausfu&#x0364;hrlicher reden.<lb/>
Malalas kennt die ro&#x0364;mi&#x017F;che Ge&#x017F;chichte vor Augu&#x017F;t nur &#x017F;o:<lb/>
er erza&#x0364;hlt wie Romulus die Factionen des Circus ge-<lb/>
&#x017F;tiftet, und Brutus den befreyten Knecht Vindicius zum<lb/>
Comes ernannt habe. Wiliku&#x0364;hrliche Erfindungen von<lb/>
ihm &#x017F;ind die&#x017F;e Erza&#x0364;hlungen nicht; und Brunichius i&#x017F;t kein<lb/>
erdichteter Nahme, obgleich &#x017F;on&#x017F;t keiner ihn nennt.</p><lb/>
        <p>Ein Ro&#x0364;mer war die&#x017F;er gewiß auch nicht. Der Nah-<lb/>
me Brunich i&#x017F;t offenbar gothi&#x017F;ch, wie Wittich, und nichts<lb/>
i&#x017F;t begreiflicher als daß die germani&#x017F;chen An&#x017F;iedler in Ita-<lb/>
lien die einheimi&#x017F;chen Ge&#x017F;chichten, die wieder zu Sagen<lb/>
geworden waren, theils unvollkommen auffaßten, theils<lb/>
mit der&#x017F;elben Freyheit behandelten wie &#x017F;ie es an ihren<lb/>
ererbten gewohnt waren. Auch war dies wahrlich<lb/>
harmlos, und den abge&#x017F;chiedenen Gei&#x017F;tern willkomme-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[332/0348] ſind erhalten, aber ſie dienen als Subſtrat immer will- kuͤhrlicherer Fabeln: wie im Mittelalter ahndete man ſchon nicht mehr daß auf dem Boden den man betrat einſt eine ganz andre Welt lebte; und was man von ihr hoͤrte begriff keiner: Republik und alte Ordnungen waren todte Worte. Die großen Nahmen lebten fort mit einer inneren Unſterb- lichkeit, aber die Phantaſie ſpielte wild mit ihnen, wie die eines Kindes, oder wie ſich die Geſchichte und Geo- graphie in Ritterromanen geſtaltet. So war Hannibal in der Tradition Roms im zwoͤlften Jahrhundert ein roͤmi- ſcher Feldherr, von dem eine Familie der Stadt ihr Ge- ſchlecht ableitete. Es ſind mehrere Schriften erhalten welche dieſe ſonderbaren Traͤume darſtellen; ſie werden als ſinnlos verachtet, und ſind doch merkwuͤrdig; an einem andern Ort werde ich von ihnen ausfuͤhrlicher reden. Malalas kennt die roͤmiſche Geſchichte vor Auguſt nur ſo: er erzaͤhlt wie Romulus die Factionen des Circus ge- ſtiftet, und Brutus den befreyten Knecht Vindicius zum Comes ernannt habe. Wilikuͤhrliche Erfindungen von ihm ſind dieſe Erzaͤhlungen nicht; und Brunichius iſt kein erdichteter Nahme, obgleich ſonſt keiner ihn nennt. Ein Roͤmer war dieſer gewiß auch nicht. Der Nah- me Brunich iſt offenbar gothiſch, wie Wittich, und nichts iſt begreiflicher als daß die germaniſchen Anſiedler in Ita- lien die einheimiſchen Geſchichten, die wieder zu Sagen geworden waren, theils unvollkommen auffaßten, theils mit derſelben Freyheit behandelten wie ſie es an ihren ererbten gewohnt waren. Auch war dies wahrlich harmlos, und den abgeſchiedenen Geiſtern willkomme-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/348
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/348>, abgerufen am 22.11.2024.