Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Viele unter den Patriciern, wenn sie auch nicht
mehr den alten Wahn einer höheren Kastenabstammung
hegten, konnten diesem Antrage mit redlicher Meinung
ihres wohlbegründeten strengen Rechts auf das Aeußerste
widerstehen. Nicht weniger redlich konnten Plebejer,
ohne den Vorwurf des Eigennutzes zu verdienen, ihre
Ansprüche auf volles Bürgerrecht, bekräftigt durch zwey-
hundertjährigen Dienst, über Satzungen stellen, welche
das lange nachher entstandene nicht binden konnten: wenn
nicht schon an sich Veränderung und Wandel dem Leben
so nothwendig wären als daß die Veränderungen aus dem
ursprünglichen Keim sich entwickeln, oder dem was er sich
angeeignet. Die Weisheit eines Gesetzes bewährt unwi-
dersprechlich oft nur die Erfahrung. Livius läßt dem
Tribun scheinbar treffend einwenden: wenn der größte
Mann des Zeitalters, in der dringendsten Gefahr zum Heil
des Vaterlands um das Consulat werbend, ein Patricier
wäre, -- sein Appius konnte nur Camillus nennen, wir
denken füglicher an den großen Scipio, -- wenn er mit
verdienten Patriciern und einem einzigen nichtswürdi-
gen plebejischen Demagogen die Magistratur suchte, ob
es alsdann nicht unsinnig sey daß er seiner Erwählung
ungewiß seyn, vielleicht sie verfehlen müsse, während der
Plebejer sie müßig erwarten könne? Der Geschichtschrei-
ber der eine solche Einwendung unbeantwortet hinstellt,
verfährt unredlich, weil er Leser erwarten kann welche
das willkührlich oder nachlässig unbeantwortete für unwi-
derleglich halten. Er hätte Licinius die Antwort leihen
müssen: in Rom würden aus beyden Ständen noch lange

Viele unter den Patriciern, wenn ſie auch nicht
mehr den alten Wahn einer hoͤheren Kaſtenabſtammung
hegten, konnten dieſem Antrage mit redlicher Meinung
ihres wohlbegruͤndeten ſtrengen Rechts auf das Aeußerſte
widerſtehen. Nicht weniger redlich konnten Plebejer,
ohne den Vorwurf des Eigennutzes zu verdienen, ihre
Anſpruͤche auf volles Buͤrgerrecht, bekraͤftigt durch zwey-
hundertjaͤhrigen Dienſt, uͤber Satzungen ſtellen, welche
das lange nachher entſtandene nicht binden konnten: wenn
nicht ſchon an ſich Veraͤnderung und Wandel dem Leben
ſo nothwendig waͤren als daß die Veraͤnderungen aus dem
urſpruͤnglichen Keim ſich entwickeln, oder dem was er ſich
angeeignet. Die Weisheit eines Geſetzes bewaͤhrt unwi-
derſprechlich oft nur die Erfahrung. Livius laͤßt dem
Tribun ſcheinbar treffend einwenden: wenn der groͤßte
Mann des Zeitalters, in der dringendſten Gefahr zum Heil
des Vaterlands um das Conſulat werbend, ein Patricier
waͤre, — ſein Appius konnte nur Camillus nennen, wir
denken fuͤglicher an den großen Scipio, — wenn er mit
verdienten Patriciern und einem einzigen nichtswuͤrdi-
gen plebejiſchen Demagogen die Magiſtratur ſuchte, ob
es alsdann nicht unſinnig ſey daß er ſeiner Erwaͤhlung
ungewiß ſeyn, vielleicht ſie verfehlen muͤſſe, waͤhrend der
Plebejer ſie muͤßig erwarten koͤnne? Der Geſchichtſchrei-
ber der eine ſolche Einwendung unbeantwortet hinſtellt,
verfaͤhrt unredlich, weil er Leſer erwarten kann welche
das willkuͤhrlich oder nachlaͤſſig unbeantwortete fuͤr unwi-
derleglich halten. Er haͤtte Licinius die Antwort leihen
muͤſſen: in Rom wuͤrden aus beyden Staͤnden noch lange

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0359" n="343"/>
        <p>Viele unter den Patriciern, wenn &#x017F;ie auch nicht<lb/>
mehr den alten Wahn einer ho&#x0364;heren Ka&#x017F;tenab&#x017F;tammung<lb/>
hegten, konnten die&#x017F;em Antrage mit redlicher Meinung<lb/>
ihres wohlbegru&#x0364;ndeten &#x017F;trengen Rechts auf das Aeußer&#x017F;te<lb/>
wider&#x017F;tehen. Nicht weniger redlich konnten Plebejer,<lb/>
ohne den Vorwurf des Eigennutzes zu verdienen, ihre<lb/>
An&#x017F;pru&#x0364;che auf volles Bu&#x0364;rgerrecht, bekra&#x0364;ftigt durch zwey-<lb/>
hundertja&#x0364;hrigen Dien&#x017F;t, u&#x0364;ber Satzungen &#x017F;tellen, welche<lb/>
das lange nachher ent&#x017F;tandene nicht binden konnten: wenn<lb/>
nicht &#x017F;chon an &#x017F;ich Vera&#x0364;nderung und Wandel dem Leben<lb/>
&#x017F;o nothwendig wa&#x0364;ren als daß die Vera&#x0364;nderungen aus dem<lb/>
ur&#x017F;pru&#x0364;nglichen Keim &#x017F;ich entwickeln, oder dem was er &#x017F;ich<lb/>
angeeignet. Die Weisheit eines Ge&#x017F;etzes bewa&#x0364;hrt unwi-<lb/>
der&#x017F;prechlich oft nur die Erfahrung. Livius la&#x0364;ßt dem<lb/>
Tribun &#x017F;cheinbar treffend einwenden: wenn der gro&#x0364;ßte<lb/>
Mann des Zeitalters, in der dringend&#x017F;ten Gefahr zum Heil<lb/>
des Vaterlands um das Con&#x017F;ulat werbend, ein Patricier<lb/>
wa&#x0364;re, &#x2014; &#x017F;ein Appius konnte nur Camillus nennen, wir<lb/>
denken fu&#x0364;glicher an den großen Scipio, &#x2014; wenn er mit<lb/>
verdienten Patriciern und einem einzigen nichtswu&#x0364;rdi-<lb/>
gen plebeji&#x017F;chen Demagogen die Magi&#x017F;tratur &#x017F;uchte, ob<lb/>
es alsdann nicht un&#x017F;innig &#x017F;ey daß er &#x017F;einer Erwa&#x0364;hlung<lb/>
ungewiß &#x017F;eyn, vielleicht &#x017F;ie verfehlen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, wa&#x0364;hrend der<lb/>
Plebejer &#x017F;ie mu&#x0364;ßig erwarten ko&#x0364;nne? Der Ge&#x017F;chicht&#x017F;chrei-<lb/>
ber der eine &#x017F;olche Einwendung unbeantwortet hin&#x017F;tellt,<lb/>
verfa&#x0364;hrt unredlich, weil er Le&#x017F;er erwarten kann welche<lb/>
das willku&#x0364;hrlich oder nachla&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig unbeantwortete fu&#x0364;r unwi-<lb/>
derleglich halten. Er ha&#x0364;tte Licinius die Antwort leihen<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en: in Rom wu&#x0364;rden aus beyden Sta&#x0364;nden noch lange<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[343/0359] Viele unter den Patriciern, wenn ſie auch nicht mehr den alten Wahn einer hoͤheren Kaſtenabſtammung hegten, konnten dieſem Antrage mit redlicher Meinung ihres wohlbegruͤndeten ſtrengen Rechts auf das Aeußerſte widerſtehen. Nicht weniger redlich konnten Plebejer, ohne den Vorwurf des Eigennutzes zu verdienen, ihre Anſpruͤche auf volles Buͤrgerrecht, bekraͤftigt durch zwey- hundertjaͤhrigen Dienſt, uͤber Satzungen ſtellen, welche das lange nachher entſtandene nicht binden konnten: wenn nicht ſchon an ſich Veraͤnderung und Wandel dem Leben ſo nothwendig waͤren als daß die Veraͤnderungen aus dem urſpruͤnglichen Keim ſich entwickeln, oder dem was er ſich angeeignet. Die Weisheit eines Geſetzes bewaͤhrt unwi- derſprechlich oft nur die Erfahrung. Livius laͤßt dem Tribun ſcheinbar treffend einwenden: wenn der groͤßte Mann des Zeitalters, in der dringendſten Gefahr zum Heil des Vaterlands um das Conſulat werbend, ein Patricier waͤre, — ſein Appius konnte nur Camillus nennen, wir denken fuͤglicher an den großen Scipio, — wenn er mit verdienten Patriciern und einem einzigen nichtswuͤrdi- gen plebejiſchen Demagogen die Magiſtratur ſuchte, ob es alsdann nicht unſinnig ſey daß er ſeiner Erwaͤhlung ungewiß ſeyn, vielleicht ſie verfehlen muͤſſe, waͤhrend der Plebejer ſie muͤßig erwarten koͤnne? Der Geſchichtſchrei- ber der eine ſolche Einwendung unbeantwortet hinſtellt, verfaͤhrt unredlich, weil er Leſer erwarten kann welche das willkuͤhrlich oder nachlaͤſſig unbeantwortete fuͤr unwi- derleglich halten. Er haͤtte Licinius die Antwort leihen muͤſſen: in Rom wuͤrden aus beyden Staͤnden noch lange

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/359
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/359>, abgerufen am 22.11.2024.